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Goliath - Bärenbeobachtung I

Behutsam schiebt sich die Sonne hinter den Baumwipfeln hervor, bedient sich einer beinahe unwirklich anmutenden Farbpalette und lässt Wald und See in den sonderlichsten Schattierungen erscheinen. Das Zwielicht, das die Landschaft in den frühen Morgenstunden eingehüllt hatte, schwindet nun zusehends. Die Stille, die über allem liegt, wird nur durchbrochen vom monotonen Geräusch der Wassertropfen, Überbleibsel des starken Regens der Nacht, der die Wasseroberfläche des kleinen Sees vorübergehend in Aufruhr versetzt hatte. Jetzt liegt das Gewässer wieder klar vor uns und fängt die Umgebung wie ein perfekter Spiegel ein. So ruhig wie die erste Nacht der Bärenbeobachtung zu Ende geht, so aufregend hat sie begonnen.

Wir montieren unsere Stativköpfe auf die dafür vorgesehenen M8-Schrauben, das Holz knarzt viel zu laut beim Festziehen. Ab jetzt heißt es, so wenig Geräusche wie möglich zu verursachen, um die Tierwelt nicht schon von Weitem auf uns aufmerksam zu machen. In dem rund vier Quadratmeter großen Unterstand, den wir in dieser Nacht beziehen, fühlen wir uns gleich zu Hause, nichts hat sich verändert zu unserem ersten Besuch vor fünf Jahren.

Damals war der erste Bär nach mehreren Stunden des Wartens erschienen und so haben wir diesmal keine allzu große Eile, uns in dem kleinen Bretterverschlag für die kommenden 15 Stunden einzurichten. Als erstes werden die Kameras, bestückt mit je einem 70-200 mm- und 100-400 mm-Objektiv, ausgerichtet. Die Akkus sind voll, die Speicherkarten leer. Während ich die dritte Ersatzkamera vorbereite, richte ich meinen Blick durch den schmalen Sehschlitz, oberhalb des Stoffes mit den Öffnungen für die Objektive, nach draußen und lasse ihn gemütlich über die Landschaft schweifen. Ein kleiner See liegt vor uns, zu seinen Seiten waldbestanden, und gegenüber unserer Behausung breitet sich ein Sumpfgebiet aus, hinter dem Russland liegt. In das Gelb des sich bereits langsam verfärbenden Grases schiebt sich in meinem Augenwinkel etwas Dunkles. Instinktiv wandert mein Kopf in diese Richtung und der dunkle, sich bewegende Fleck entpuppt sich als Bär. Nicht als irgendein Bär, sondern als ein wahrer Riese seiner Art. Sanft, aber doch energisch stupse ich Ruth an und flüstere nur: „Bär.“ Der rasch auffahrende Kopf neben mir und die freudig glänzenden Augen bleiben als von mir erwartete Reaktion aus. Stattdessen breitet Ruth zu meiner großen Überraschung weiter seelenruhig den Proviant aus und meint nur: „Ja, klar.“ Erst als ich erneut ein ungläubiges, meinen Augen weiterhin nicht trauendes „Bär“ hauche, folgt Ruth meinem Blick. Ohne weitere Worte nehmen wir unsere Positionen ein und beobachten dieses Prachtexemplar eines Braunbären.

Seine Erscheinung ist ehrfurchtgebietend, sein Verhalten respekteinflößend. Mit jeder seiner Bewegungen macht er deutlich, dass er nichts und niemanden zu fürchten braucht. Selbstsicher und lautlos watet er durch den Sumpf, bleibt immer wieder lange stehen. Keine Vorsicht und Unsicherheit sind zu spüren. Seine schiere Masse lässt uns staunen. Die Bären sind nun insgesamt, so kurz vor dem bevorstehenden Winterschlaf, ein wenig rundlich und meist wohlgenährt, aber seine Ausmaße übersteigen alles, was wir bisher gesehen haben. Aber trotz seines Gewichts, das wir auf über 300 Kilo schätzen, bewegt er sich mühelos, beinahe geschmeidig durch den Morast, entlang des Sees. Um die Bären auseinander zu halten, geben wir ihnen Namen, und bei seiner Erscheinung fällt uns spontan nur einer ein: Goliath. Er nähert sich uns von der Seite und hebt von Zeit zu Zeit seinen massigen Schädel, um zu schnüffeln. Bären sehen schlecht, dafür hören und riechen sie umso besser. Sie können Aas aus einer Entfernung von mehreren Kilometern wittern.

Goliath weiß, dass wir hier, wenige Meter vor ihm, hinter einem Stück Stoff, sitzen. Er kommt nochmals näher, ist nun nur noch rund zwei Meter von uns entfernt. Deutlich hören wir sein ruhiges, tiefes Schnaufen und etwas in uns sagt, dass es jetzt ratsam wäre, nicht weiter seine Aufmerksamkeit zu erregen. Dennoch drücken wir weiter die Auslöser unserer Kameras, deren Auslösegeräusche, obwohl im „Silent-Mode“, uns jetzt laut wie Donnerschläge vorkommen. Schon längst bekommen wir den Bären nicht mehr in seiner Gänze auf das Bild, nur noch Ausschnitte seiner gewaltigen Erscheinung können wir mit den montierten Teleobjektiven einfangen, und an einen Objektivwechsel ist jetzt nicht zu denken. Sein Kopf bewegt sich erneut in unsere Richtung, wir halten inne, und Goliath stapft durch den Sumpf seitlich an unserem Versteck vorbei und verschwindet aus unserem Sichtfeld. Er ist jetzt hinter uns, wir können sein Wittern nur hören, nach hinten und zu den Seiten gibt es keine Möglichkeiten, hinaus zu sehen. Wir verhalten uns ruhig, konzentrieren uns nur auf das Hören. Nach einiger Zeit ist es ganz still, er ist wohl weitergezogen.

Ruth und ich sehen uns an. Es dauert eine Zeitlang, bis wir etwas sagen. Es war das erste Mal während einer Bärenbeobachtung, dass wir wirklich froh über den Stoff als Sichtschutz und die dünnen Bretter, an denen er befestigt ist, waren. Die Begegnung mit Goliath, die vielleicht insgesamt zehn Minuten andauert, in unserer Wahrnehmung aber deutlich in die Länge gezerrt wird, beeindruckt uns nachhaltig. Es wäre für den Bären ein Leichtes, zu uns in den Bretterverschlag zu kommen, ihn gänzlich einzureißen. Ein ausgewachsener Braunbär kann allein mit seinem Kiefer Beute von 450 Kilogramm ziehen, mit einem einzigen Prankenhieb das Genick eines Elches brechen. Er ist uns physisch in allem überlegen; auch wenn man es kaum glauben mag angesichts seiner Größe, so rennt er schneller als der schnellste menschliche Läufer, klettert und schwimmt besser als wir. Seine scheinbare Schwerfälligkeit ist in Wirklichkeit ein gezieltes Sparen an dringend benötigten Kalorien, er bewegt sich nicht schnell, wenn er es nicht muss. Und doch haben wir nichts vor ihm zu befürchten, duldet er uns Eindringlinge in seinem Territorium, solange wir uns respektvoll und nicht provozierend verhalten. Eine Eigenschaft, die der Menschheit häufig abhandengekommen ist. Da fällt mir ein Stromberg-Zitat ein, das man wunderbar auf den Bären ummünzen kann: „Begegnet ein Bär einem anderen Bären im Wald, denkt er: Ah, ein anderer Bär. Begegnet ein Mensch aber einem anderen Menschen im Wald, denkt er: Bestimmt ein Räuber.“

Insgesamt liegen wir drei Nächte mit unseren Kameras auf der Lauer. Neben Goliath lässt sich noch ein wesentlich jüngerer und kleinerer männlicher Braunbär blicken. Sein Verhalten ist im Vergleich zu dem Auftreten Goliaths gänzlich anders. Er ist sehr vorsichtig bei allem, was er tut, sich stets umschauend und vergewissernd, dass keine Gefahr naht. Sein äußerliches und unverkennbares Markenzeichen ist eine weiße Verfärbung seines Fells an seiner Seite.

Man muss sehr aufmerksam sein, um die flinken Vielfraße nicht zu übersehen. Wenn sie rennen, tauchen sie vollständig im hohen Gras unter, sind nur zu entdecken, wenn sie Männchen machen, um sich einen Überblick zu verschaffen. Eines der seltenen Kerlchen kommt auf seinem nächtlichen Streifzug sehr dicht an unserem Unterschlupf vorüber. Vielfraße sind streng geschützt und leisten einen wichtigen Beitrag in der Wildnis. Die von ihnen gerissene Beute dient auch als Nahrung für andere Tiere, wie zum Beispiel Polarfüchse, Adler und Raben.

Im Jahre 2015 besuchten wir das Bear Centre im Juni, was uns ermöglichte, die komplette Nacht zu fotografieren, da die Sonne zu dieser Jahreszeit so hoch im Norden nie vollständig untergeht. Das ist jetzt anders. Ab neun Uhr nimmt das Licht schon so deutlich ab, dass das vernünftige Fotografieren schwierig wird. In unserer letzten Nacht in einem der Unterschlüpfe im Wald, es ist bereits nach halb zehn und wir sind gerade dabei, die Kameras auszuschalten und in die Schlafsäcke zu kriechen - da entdeckt Ruth etwas Helles am Rande unseres Sichtfeldes, versteckt hinter Bäumen. Gebannt heften wir beide unsere Blicke darauf. Es bewegt sich nicht. Völlige Stille herrscht draußen, in der bereits deutlich fortgeschrittenen Dämmerung, nicht einmal das Rufen eines Vogels oder das ansonsten allgegenwärtige Klopfen eines Spechts ist zu hören. Da! Plötzlich macht es ein paar Schritte vorwärts, bevor es abermals verharrt. Wir überlegen, ob es ein Wolf sein könnte, aber es ist völlig ausgeschlossen, das mit Sicherheit zu sagen, nicht aus dieser Entfernung und in dem schummrigen Licht. Wieder macht der helle Fleck ein paar Bewegungen und tritt nun aus dem Wald hervor und gibt sich zu erkennen. Es ist ein ganz heller, junger Bär, von geschätzt drei Jahren. Es ist sein erstes Jahr ohne den Schutz der Mutter. Die ISO-Werte der Kameras haben wir in der Zwischenzeit auf Werte geschraubt, die wir normalerweise versuchen, zu vermeiden, und die Verschlusszeiten sind dennoch bei abenteuerlichen Werten, wenn es darum geht, sich bewegende Tiere zu fotografieren. Aber der junge Bär bewegt sich so vorsichtig, bleibt immer wieder lange stehen, verharrt in einer Position, um kein Geräusch zu überhören, so dass wir dennoch brauchbare Bilder schießen können. So beeindruckend die Begegnung mit Goliath war, so einzigartig ist das Beobachten dieses Jungbären, der zu einem Zeitpunkt aufgetaucht ist, scheinbar aus dem Nichts, als wir schon längst nicht mehr damit gerechnet hätten. Vorsichtig schleicht er am Rande des Sees entlang und verschwindet plötzlich mit wenigen Sätzen im Wald. Einige Momente später taucht auf der anderen Seite des Sees der Bär mit dem weißen Fleck auf. Die Tatsache, dass der Geruch des eigentlich schüchternen Bären den jungen, hellen Artgenossen vertrieben hat, zeigt, wie vorsichtig und zurückhaltend dieser in seinem jungen Leben noch ist.

Als sich endgültig die Nacht breit macht und wir nur noch in die Finsternis starren können, kriechen wir in unsere Schlafsäcke. Lange sehen wir den hellen Bären noch vor unserem inneren Auge das Ufer entlangtapsen, und die Bilder lassen uns nicht so schnell in den Schlaf finden.

Der folgende Morgen beginnt, wie der vergangene Abend geendet hat: mit einer außergewöhnlichen Begegnung. Wir packen gerade unsere Sachen zusammen und stehen neben unserem „Dicken“, als ein Fuchs sich uns nähert. Unser erster Gedanke ist, dass er gleich verschwinden wird, sobald er uns entdeckt. Als er das nicht tut, sondern im Gegenteil, weiter auf uns zukommt, ist unser zweiter Gedanke, dass er vielleicht Tollwut haben könnte. Ich greife zur nächsten griffbereiten Kamera, die auf dem Fahrersitz liegt, und mache ein paar Fotos. Daraufhin springt der Fuchs ein paar Meter zurück, um im nächsten Augenblick wieder auf uns zuzukommen. Wir merken, dass unsere Sorge vor einer möglichen Krankheit des Tieres unbegründet ist, er ist einfach noch jung und sehr verspielt und frei von schlechten Erfahrungen mit Menschen. Nach einer Weile zieht der Fuchs weiter, fordert auf seinem Weg in den dichteren Wald noch einen Vogel zum Spielen auf, und ist dann verschwunden.

Wir können unser Glück nicht so recht fassen und sind bei der Weiterfahrt sehr dankbar für die Erlebnisse der letzten Nächte.

Noch immer ist die Saison der Bärenjagd in Finnland in vollem Gange, und somit könnte jeder der Bären, die wir in diesen Nächten voll Bewunderung beobachten durften, schon in der nächsten Nacht zur Beute werden. Für uns steht fest: Auch wir jagen gerne Bären, aber unsere Jagd ist eine unblutige; unsere Waffe ist die Kamera und unsere Beute die Fotos auf unseren Speicherkarten.

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