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"Russian Style" am Onega-See

"Aber warum seid ihr ausgerechnet nach Karelien gekommen?" fragt Nikolai Jürgen bestimmt schon zum dritten Mal. Es scheint ihm nur schwer begreiflich, dass man diese Gegend zum Ziel einer solch langen Anreise oder eines ausgedehnten Aufenthalts machen könnte. Er habe Deutschland auch schon kurz besucht, da sei es doch "so viel sauberer als hier". Kurz zuvor haben die beiden Nikolais Auto aus dem Sand geholt, in dem es sich festgefahren hatte.

Wir sind gerade dabei, unser Zelt am Onegasee abzubrechen, als wir den Pkw mit den durchdrehenden Rädern bemerken. Jürgen nähert sich zunächst mit Sandblechen, doch diese sind Nikolai ein wenig suspekt; dann der Vorschlag seinen Wagen aus dem tiefen Sand zu schleppen, aber der junge Russe gibt uns zu verstehen, daß er keine Abschleppöse an seinem Auto hat - wir sollen es "Russian Style", also mit Anschieben, versuchen. Und so werden die Männer des losen Untergrundes allmählich Herr. Nikolais Begleiterinnen und ich schauen dem Treiben aus ein paar Metern Entfernung zu. Gemeinsame Interessen von Meditation bis zur Musik sind schnell gefunden, und so mangelt es uns nicht an Gesprächsstoff. Die drei stammen aus dem nahen Petrozavodsk und besuchen ein kleines Zeltlager von Jugendlichen - eine von Nikolais Begleiterinnen will dort nach ihrem Sohn schauen.

Petrozavodsk ist die Hauptstadt Kareliens, die mit fast 300 000 Einwohnern für russische Verhältnisse noch recht klein geraten ist. Wir bleiben ein paar Tage und streifen bei teils schönem Sonnenlicht durch die Straßen der Stadt.

Die Stadt ist so angelegt, dass man von vielen Straßen aus einen Blick auf den Onegasee werfen kann, an dessen Ufer sie liegt. Eine der Hauptstraßen ist, wie offenbar in vielen russischen Städten, der Lenin-Prospekt, der an einer übergroßen Statue des Revolutionärs endet. Keinerlei Schriftzug ziert den Sockel, weiß doch hier sicherlich auch jedes Kind, um wen es sich bei dem Standbild handelt. Er blickt auf eine Gedenkstätte für die Gefallenen im Großen Vaterländischen Krieg, auf rote Nelken und ewiges Feuer.

Vor über 300 Jahren wurde der Grundstein für die Stadt, die nach Zar Peter dem Großen "Peter-Werk" heißt, zunächst als Eisen- und Kanonenfabrik gelegt. Dem Namensgeber wurde in den Parkanlagen um den Hafen herum ein Denkmal gesetzt. Ganz in der Nähe gibt es einen Stand mit hervorragenden gefüllten Bliny, den russischen Pfannkuchen.

Am Hafen kann man auf einer weitläufigen Promenade wunderbar spazieren, immer mit Blick auf den Onegasee, der hier kleiner aussieht als er ist, da am Horizont Inseln die Sicht auf seine volle Größe versperren. Man kommt vorbei an modernen Kunstwerken, die meisten davon sind Geschenke der zahlreichen Partnerstädte von Petrozavodsk - zum Beispiel von Tübingen aus deutschen Landen. Und es kann gut passieren, dass man sich plötzlich inmitten einer Hochzeitsgesellschaft wiederfindet, denn unmittelbar in der Nähe der Promenade liegt die violette "Hochzeitsvilla" und der See gibt eine schöne Kulisse für Photos des Brautpaars ab.

Petrozavodsk ist Wohnort vieler Wepsen; dieses finno-ugrische Volk gehört zu den ersten und ursprünglichen, die das Land zwischen Ladoga- und Onegasee besiedelten. Fährt man am Seeufer entlang Richtung Südosten, so kommt man durch einige kleine wepsische Dörfer mit schönen Holzhäuschen und weitläufigen Feldern. Und an vielen Stellen sieht man, wie sehr diese Dörfer und mit ihnen auch die wepsische Kultur, vom Zahn der heutigen Zeit angenagt sind. Landflucht und die unvermeidliche Durchmischung der Völker, Sprachen und Kulturen setzen der wepsischen Identität zu.

In Scholtozero allerdings wird sie noch gehegt und gepflegt, die wepsische Kultur, durch den wepsischen Chor des Ortes und immer wieder hier stattfindende Musikfestivals. Oder im Museum der Wepsen, untergebracht in einem beeindruckenden Holzhaus mit schönen Schnitzereien. 40 Prozent der Einwohner von Scholtozero seien Wepsen, erzählt uns die Frau, die durch die Sammlung führt, die nicht nur die wepsische Sprache und Geschichte zum Thema hat, sondern auch das bäuerliche Alltagsleben der Menschen in den Dörfern. Und einige interessante zeitgenössische künstlerische Auseinandersetzungen mit der Seele dieses kleinen Volkes zu bieten hat, beispielsweise eine besondere Version der "Mona Lisa".

Auf einem der Landschaftsaquarelle entdecken wir eine kleine Holzkirche, und unsere Nachfrage führt uns einige holprige Kilometer weiter und heraus aus Karelien in den Leningrader Oblast. Hier in Gimreka liegt sie dann auf einem Hügel vor uns. Aus der Ferne hören wir Donner und über unseren Köpfen braut sich plötzlich ein Unwetter zusammen. Unmittelbar zuvor wird die ganze Umgebung in ein fast unwirkliches Licht getaucht. Nach kurzem sturzbachartigen Regen tropft es allerorten von den dunklen Holzschindeln und auf den künstlichen Blumen der Gräber des kleinen Friedhofs schimmern Wassertropfen.

Typisch für die Friedhöfe hier in der Gegend sind die kleinen Tische und Bänke am Rand der Gräber. Diese werden von Angehörigen genutzt, um bei den Verstorbenen zu sitzen und mit ihnen zu essen.

Petrozavodsk ist recht gut geeignet, um einige Besorgungen zu machen. Beim Auffüllen unserer Vorräte entdecken wir allerhand Kurioses in den Supermarktregalen, zum Beispiel Pralinen zum Anlaß des 70jährigen Jubiläums des Sieges der Sowjetunion im Zweiten Weltkrieg - ein allgegenwärtiges Thema auch auf Plakaten und Autoaufklebern.

Friseursalon auf Russisch: Klingt wie "Perückenmacher" und ist wohl auch aus dem Deutschen übernommen worden.

In den weitläufigen Wohnvierteln um das Zentrum und den Hafen herum sieht es stellenweise recht trostlos aus. Solch ein Wohnhaus soll einen Waschsalon beherbergen, den wir dringend bräuchten aber trotz ausgedehnter Suche nicht entdecken können.

Und wo übernachtet man am besten in Petrozavodsk? Es gibt natürlich einige recht moderne, komfortable Hotels und die obligatorischen Häuser aus der Sowjetzeit. Besser gefallen hat uns allerdings ein kleines Motel am Stadtrand mit gemütlichem Café und hervorragendem Borschtsch.

Aber nicht zu übertreffen ist das Ufer des Onegasees als Schlafzimmer, wo man unter Kiefern am Sandstrand ein Feuer machen kann, zu später Stunde die rote Sonne noch ins Dachzelt scheint und man morgens vom Tosen der Wellen geweckt wird. Und wo man unverhofft dank steckengebliebenem Auto ein paar nette Russen kennenlernt.

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