Kischi
Auf einmal taucht sie hinter der dicken, schmutzigen Glasscheibe des Tragflügelbootes auf. Vor schnell dahinziehenden, graublauen Wolken ragen ihre zahlreichen Zwiebeltürmchen fast unwirklich in den Himmel. Die Christi-Verklärungskirche auf der Insel Kischi im Norden des Onegasees wurde Anfang des 18. Jahrhunderts angeblich ohne einen einzigen Eisennagel komplett aus Holz erbaut. Sie wird seit einigen Jahren renoviert, eigentlich sollte sie zu ihrem 300jährigen Jubiläum 2014 vollständig rekonstruiert sein. Davon kann allerdings noch lange nicht die Rede sein, zur Zeit fehlt ihr kompletter Mittelbau. Im unteren Bereich steht bereits die Konstruktion aus hellem Holz, in der Regel Kiefer; Metallgerüste tragen die alte Kuppel mit ihren 22 Türmchen, ein wenig wirkt es, als wollte man sie in die Lüfte heben.
Wir starten am frühen Morgen am Hafen von Petrozavodsk. Der Himmel ist tief wolkenverhangen und es weht ein frischer Wind. Fast müssen wir uns daran erinnern, dass es eigentlich noch nicht Herbst ist, sondern mitten im Juli. Eines der von unserem Ausflug nach Walaam bereits bekannten Tragflügelboote bringt uns in etwas mehr als einer Stunde zur kleinen Insel Kischi, die eingezwängt zwischen Landzungen und kleinen Inseln malerisch im Onegasee liegt. Wir setzen uns schnell ab vom Rest der Ankömmlinge, die später wie kleine Herden von ihren Fremdenführern über die Insel getrieben werden. Neben solchen Führungen kann man auch kleine Extraprogramme buchen, in deren Rahmen einem die Restaurierungsmaßnahmen an der Kirche oder manch traditionelles Handwerk nähergebracht werden. Bei der teuersten Variante wird man mit einer kleinen Pferdekutsche über die Insel gekarrt. Wir wollen von alldem nichts wissen und erkunden sie lieber selbst.
Auf der Insel leben zwar ein paar wenige Menschen, aber im Grunde ist sie ein riesiges Freiluftmuseum. Das Gras ist allerorten frisch gemäht und für die Besucher sind zum Teil Holzstege und kleine Wege angelegt worden.
Auch mit Souvenirs kann man sich natürlich eindecken, inklusive T-Shirts mit dem Konterfei des etwas grimmig dreinschauenden russischen Präsidenten.
Und so spaziert man zwischen kleinen Holzhäuschen, die die alte Holzbaukunst der Region veranschaulichen; besonders beeindruckend ist hierbei die Fertigung der Schindeln für die Zwiebeltürmchen aus Espenholz, welches bei Regen aufquillt und so dafür sorgt, dass die Dächer dicht sind. Wie an manch anderer Stelle auch sitzt hierzu ein Museumsangestellter wie anno dazumal gekleidet irgendwo auf der Insel und zeigt den Besuchern, wie die Schindeln hergestellt werden. Wer des Russischen mächtig ist, kann ihn auch mit Fragen löchern.
Man kann auch zusehen beim Herstellen der für diese Region typischen gehäkelten Perlenketten...
... beim Sticken traditioneller karelischer Ornamente...
... oder beim Garn spinnen in einem beeindruckend großen und dennoch heimeligen Bauernhaus.
Man läuft vorbei an alten Windmühlen, Fischerbooten und einer kleinen Kapelle; wenn man Glück hat, kann man hier einem Glockenspieler lauschen.
Doch immer wieder bleibt der Blick am Kirchenensemble von Kischi hängen. Im 17. Jahrhundert von den örtlichen Bauern errichtet, im 18. Jahrhundert niedergebrannt, danach nach altem Muster und schöner wiederaufgebaut, beindrucken vor allem seine zahlreichen kleinen Zwiebeltürmchen, deren Holzschindeln im Sonnenlicht fast metallisch glänzen. Doch die Sonne läßt sich einfach nicht blicken, etwas mißmutig gestimmt traben wir über die Insel, uns langsam und widerwillig damit anfreundend, daß wir einen der Höhepunkte der Reise vermutlich ohne Licht zum Fotografieren erleben werden. Besonders sind auch die Ikonen, die man zur Zeit wegen der Renovierungsarbeiten nur in der kleineren Winterkirche, der Maria-Schutz-und-Fürbitte Kirche, bewundern kann. Meist von lokalen, ungelernten Ikonenmalern mit natürlichen Farben hergestellt, wirken sie so ganz anders als die bekannten russischen Ikonen der großen Klöster.
Schließlich haben wir doch noch Glück. Als wir aus einem der kleinen Holzhäuschen ins Freie treten, hat der Wind die Wolken zur Seite gefegt und Kischi erstrahlt im schönsten Sonnenlicht. Die letzte Stunde stürmen wir wie besessen an alle zuvor besuchten Orte und wiederholen die Motive mit besserem Licht und wie sich zeigt, weniger Menschen. Die meisten Besucher sitzen nach ihren Führungen bereits im Café. Möwen und Nebelkrähen kreisen über den beiden Kirchen mit ihrem kleinen Friedhof. Und wenn dann kurz einmal keine Menschengruppen sich durch den Kirchenhof drängeln, dann wähnt man sich in eine andere Zeit versetzt.
Als wir nur vier Stunden nach unserer Ankunft bereits wieder auf dem Kai der Insel unser Tragflügelboot besteigen müssen, ziehen die Wolken den Vorhang vor der Sonne bereits wieder zu.
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