Spuren wilderer Zeiten
Schon von Weitem hört man das Hämmern und Sägen. Inmitten gedrungener Hütten aus verwittertem Holz entsteht eine neue. In traditioneller Bauweise ragen ihre hölzernen Mauern bereits mannshoch in den blauen Himmel. Die drei Handwerker, die sie errichten, tragen Kleidung wie aus alter Zeit, an ihren Gürteln hängen kleine Werkzeuge und ein Trinkhorn. Unweit steht ein kleiner Karren voller Helme und Schwerter und Schilde. Und auf dem Fenstersims des offenen Nebengebäudes steht frisch im Steinofen gebackenes Brot. Alles wirkt lebendig und echt, nicht wie in einem Museum konserviert und hindrapiert. Die Zeit der Wikinger, hier im Süden Schwedens wird sie von ein paar Enthusiasten am Leben gehalten.
Als wir ein paar Tage zuvor bei Tornio über die finnisch-schwedische Grenze fahren, ist allerdings von den wilden, alten Zeiten nicht viel zu spüren. Im Gegenteil, Schweden erscheint uns nach Finnland und vor allem Russland irgendwie verschlossen und reglementiert, überall sind Zäune und von der Haptstraße führen kaum Wege ins Grüne; und wenn doch einmal, sind sie mit Gattern versperrt. Unser erster Campingplatz in Schweden ist erfreulicherweise recht leer und liegt am Wasser, an einem Ausläufer des Bottnischen Meerbusens. Abends probieren wir das Nationalgericht der Schweden, den meisten Deutschen bestens aus dem Ikea-Restaurant bekannt: Kötbullar (Man beachte, dass das K wie Sch ausgesprochen wird!) mit Kartoffeln und Preiselbeeren. Definitiv eines der Dinge, die wir an Schweden mögen.
"Schweden sind Deutsche, die Englisch sprechen können." hat mal jemand kurz nach dem Beitritt des skandinavischen Landes zur EU gesagt. So ganz unwahr ist das nicht. Auch das Land selbst sieht ein wenig aus wie Deutschland, nur stellenweise weniger bebaut, bunter, auch malerischer. Wir begegnen vielen Schweden, freundlichen, offenen Menschen, manche aber auch sehr verschlossen, manche laut und wenig rücksichtsvoll, wie zwei Ehepaare, die sich weinselig und anstrengend direkt neben uns auf einem Campingplatz niederlassen. Wir versuchen, uns nicht aus der Ruhe bringen zu lassen und genießen das schöne Sommerwetter an der kleinen Feuerstelle unweit unseres Standplatzes.
Unweit der berühmten felsigen Höga Kusten holt uns die Anstrengung der vergangenen Wochen ein und Jürgen wird erkältet. Zwei Tage später ist es auch bei mir soweit. Dennoch bleiben wir bei Dachzelt und Campingplatz und genießen morgens frische, selbstgebackene Brötchen.Statt der geplanten Wanderung entlang des finnischen Meerbusens machen wir aber lieber Kilometer und bewegen den Dicken Richtung Stockholm. Die schwedische Hauptstadt ist aber nicht unser Ziel, sondern die alte Universitätsstadt Uppsala etwas nordwestlich davon. Nach längerer Zeit fahren wir wieder in einer größeren Stadt, und schon nach wenigen Minuten gehen uns der Verkehr und das Gedrängel auf die Nerven. Wir mieten ein kleines, aber gemütliches Zimmer in einem Hostel im Stadtzentrum, das mit einer gut ausgestatteten Küche und kostenlosem Tee und Kaffee punkten kann und sich als perfekt für Spaziergänge zu den nahen Sehenswürdigkeiten erweist. Dem Dicken gönnen wir eine wohlverdiente Pause und stellen ihn auf einem nahen Parkplatz ab.
Bei schönstem Sonnenschein streunen wir durch die Altstadt. Der übermächtige Dom aus rotem Backstein ist nicht nur von außen beeindruckend.
Stilisierte Pflanzen und Ranken schmücken die hohen Wände des gotischen Baus, dessen Grundstein bereits im Jahre 1260 gelegt wurde. In den unzähligen seitlichen Kapellen finden sich barock anmutende Grabmäler und schöne Fresken und Statuen. Erik IX., der Heilige, dem der Dom geweiht ist, wird hier gleich mit mehreren Standbildern geehrt; außerdem gibt es seinen prunkvollen Reliquienschrein in Silber und Gold zu bestaunen, der angeblich ein kleines Fragment seiner Überreste enthält. Ein ziemlich unschöner Beigeschmack bleibt zurück angesichts dieser Verbeugung vor einem Mann, der im 12. Jahrhundert wohl vor allem dadurch auffiel, dass er massenweise Heiden unter die Erde brachte.
Gleich hinter dem recht modern gestalteten Altar steht man dann vor dem wuchtigen, marmornen Grabmal von Gustav I. Wasa und seiner Familie. Vor nahezu fünfhundert Jahren befreite er Schweden von der dänischen Herrschaft und stieg so zum Nationalhelden auf. Am lebendigsten in Erinnerung bleibt mir die Figurengruppe auf der barocken Kanzel: Wenn die Nachmittagssonne durch die oberen, bunten Glasfenster des Doms scheint, dann wirkt es so, als würden die dargestellten Figuren ihr direkt zustreben.
Genau gegenüber dem St. Eriks-Dom befindet sich der Eingang zu einem der beeindruckendsten Museen, die wir je besucht haben: dem Gustavianum. Im Jahre 1625 erbaut, diente es zunächst als Universitätsgebäude. Der Arzt und Universalgelehrte Olof Rudbeck ließ auf dem Dach des Gebäudes eine riesige Kuppel errichten, auf der sich eine Sonnenuhr befindet und in deren Innerem man sich ein wenig in einen der alten Frankenstein-Filme versetzt fühlt. Das Theatrum anatomicum ist zwar nicht im Original erhalten, aber dennoch läuft einem ein leichter Schauer über den Rücken, wenn man sich vorstellt, dass auf dem kahlen Tisch in der Mitte eine Leiche vor nahezu zweihundert in den steilen Rängen stehenden Zuschauern fachmännisch seziert wurde.
Ansonsten gibt es zwischen ägyptischen Sarkophagen, Wikingerschiffen, alten wissenschaftlichen Instrumenten und Büchern und allerlei Kuriositäten viele Geschichten zu entdecken.
Vor der heutigen Stadt gibt es den alten Ortsteil Gamla Uppsala, der schon in vorwikingerischer Zeit besiedelt war. Aus dieser Periode, der Eisenzeit, stammen einige gewaltige Hügelgräber, die heute sanften, grasbewachsenen Hügeln gleich über der landwirtschaftlichen Ebene thronen. Der Legende nach sind hier Aun, Adils und Egil, drei Könige aus alter Zeit, beerdigt. Ganz in der Nähe soll einmal der berüchtigte, heidnische Tempel von Uppsala gestanden haben. Über seinen Überresten wurde angeblich die heutige Kirche von Alt-Uppsala gebaut, welche, nachdem sie einige Zeit lang das Zentrum des Christentums in dieser Gegend war, nach einem Brand zugunsten der heutigen Domkirche einer weniger bedeutenden Zukunft überlassen wurde. Ein beeindruckender Runenstein findet sich im Mauerwerk eingearbeitet, und in ihrem Inneren ist der Wissenschaftler Anders Celsius beerdigt.
Unweit des Gustavianum kann man noch einen weiteren spannenden Teil der Universität Uppsala besuchen, die Bibliothek Carolina Rediviva. Hier in der ältesten Bibliothek Schwedens dreht sich alles um Bücher. Neben wechselnden Ausstellungen - momentan kann man eine Sammlung alter Anatomielehrbücher und -tafeln bestaunen - gibt es hier sehr wertvolle und uralte Manuskripte. So stehen wir vor einer wunderbaren alten Karte des Berg Athos mit plastisch dargestellten Klöstern, einem Astronomielehrbuch mit handschriftlichen Notizen von Nikolaus Kopernikus oder dem Codex Argenteus, einem der ältesten Bücher in gotischer Sprache.
Wir arbeiten uns weiter vor Richtung Südküste, machen aber kurz Halt in einem kleinen Dorf an der Südküste des weitläufigen Mälaren-Sees. Hier finden wir auf einem Felsen in einem kleinen Wald eine einzigartige Steinritzung aus der Wikingerzeit. Sie zeigt unter anderem den Helden Sigurd, wie er die Schlange Fafnir tötet und ihr Herz über dem Feuer brät. In heutiger Zeit mit farbiger Kreide nachgezeichnet, wirkt die uralte Felsritzung fast frisch und auch die alten Runen, die in einem langen Band eine kleine Geschichte zu den mutmaßlichen Schöpfern der Ritzung erzählen, sind sehr detailreich sichtbar.
Schließlich, nach vielen Kilometern durch schwedische Bilderbuchlandschaften, landen wir bei den wilden Männern und Frauen im Foteviken Wikingerdorf ganz im Süden des Landes. Wir erkunden die kleine Siedlung und treffen auf allerlei Spannendes und Kurioses. So gibt es eine Schafherde, einen hölzernen Aussichtsturm mit wunderbarem Blick über die Foteviken-Bucht und eine Schmiede, in der man das Handwerk auch erlernen kann. Auch für eine gesellschaftliche Ordnung ist gesorgt, es gibt eine hierarchische Struktur wie in früheren Zeiten, ein Jarl steht dem kleinen Haufen vor. Ob gelegentlich wirklich jemand an den Pranger gestellt wird, wird uns allerdings nicht verraten. Nach so viel Wikingerleben gönnen wir uns zur Stärkung noch eine herrlich scharfe Gulaschsuppe im kleinen Museumsladen, in dem auch ein einheimischer Künstler seine großformatigen Szenen aus der Edda ausstellt.
Wir lernen auch noch eine wichtige Lektion: Helme von Wikingern hatten keine Hörner!
Manchmal fällt unser Blick beim Spaziergang durch das Dorf auf die weite Bucht, in der sich am Horizont die gewaltige, über sieben Kilometer lange Öresundbrücke erhebt, die Malmö in Schweden mit Kopenhagen in Dänemark verbindet. Am späten Nachmittag fahren wir unter ihren riesigen Stahlträgern und -seilen durch, während unter uns auf dem Wasser ein Fährschiff zwischen den Brückenpfeilern hindurchgleitet. Dann verschwindet die Straße unter dem Wasser, und nach einer kurzen Fahrt durch den Drogdentunnel haben wir Schweden hinter uns gelassen.
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