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Der Rote See, der nicht rot ist

Die Sonne versteckt sich langsam hinter den Felsen des Ceahlau-Massivs und ihre letzten Strahlen leuchten golden im Dunst über den Tannenwäldern. Der stattliche weiße Kater Hector der Pension Crusitu schleicht sich langsam die Holztreppe hoch, kommt aber keine Minute später mit lautem Fauchen und blutender Kratzwunde im hohen Bogen wieder heruntergeflogen. Ein paar Federn hat der Vogel auch gelassen, und so versucht es der Kater gleich nochmal. Wir beobachten sein Treiben von der Terrasse unserer Unterkunft aus, wo wir nach einem anstrengenden Wandertag unser rumänisches Abendessen geniessen. Es gibt piept de pui la gratar (gegrillte Hähnchenbrust), cartofi prajiti cu parmezan (Bratkartoffeln mit Parmesan) und köstliche selbstgemachte, mit Blumenkohl gefüllte und sauer eingelegte Tomatenpaprika. Dazu einen grünlichen, leicht nach Kräutern und vor allem Anis schmeckenden Schnaps, der ebenfalls selbstgebrannt und mit Ginseng aus den nahen Bergen verfeinert wurde.

Ein paar Tage zuvor erreichen wir die Cabana Izvoru Muntelui tief in einem Tal in der Nähe des gleichnamigen größten rumänischen Stausees. Der ist zur Zeit allerdings recht wasserarm, und wir können an einer Stelle problemlos durch die trockenliegenden Schlammbänke zu seinem Ufer gelangen, an dem sich bereits zwei Fischer an die Arbeit gemacht haben.

Die Cabana ist noch geschlossen, die Aufräumarbeiten für die Sommersaison sind in vollem Gange, aber wir kommen ein paar Häuser weiter in der urigen Pension Crusitu unter. Das Ceahlau-Massiv beherbergt ein recht überschaubares Naturschutzgebiet, durch das sich einige wunderschöne Wanderwege ziehen. Am Eingang des Nationalparks treffen wir einen Parkranger, der uns die wichtigsten Informationen liefert und uns empfiehlt, den Weg zur Poiana Maicilor zu nehmen, da von dort bei gutem Wetter der Felsenkamm des Massivs besonders schön zu sehen sei. Wir folgen seinem Rat und wenige Minuten später einem schönen Weg durch Mischwald, der uns mal leicht, mal stark ansteigend Richtung Poiana Maicilor führt. Als wir uns der Lichtung nähern steigen wir die letzten paar hundert Höhenmeter durch lichte Zwergnadelbaumbestände und durch schon länger liegenden, teils noch recht tiefen Schnee. Oben auf der Poiana Maicilor, einem mit sonnenverblichenem Gras bewachsenen Sattel, ist der Schnee aber bereits verschwunden. Dafür weht ein kräftiger Wind, der uns aber nicht daran hindert, eine ausgedehnte Pause einzulegen. Die Aussicht auf das Ceahlau-Massiv ist in der Tat herrlich und das Wetter zeigt sich von seiner besten Seite. Als wären die Niagara-Fälle zu Stein geworden, so soll einmal ein amerikanischer Gast der Wirtin der Pension Crusitu seinen Eindruck von dem felsigen Kamm geschildert haben. Erst eine laute Familie in bunten Trainingsanzügen vertreibt uns von der Anhöhe.

Auch wenn unsere Pension und die Berge uns locken, noch länger hier zu bleiben, so hindert uns der Schnee doch daran, das Gebirge weiter zu erkunden. Wir machen uns also auf nach Süden und finden uns nach wenigen Kilometern zwischen gewaltigen, teils über hundert Meter hohen Felswänden wieder. Auch wenn uns hier einige Touristen und mit ihnen natürlich auch die obligatorischen Ramschhändler über den Weg laufen - die steilen, teils überhängenden Wände der über zehn Kilometer langen, vom Bicaz-Bach geschaffenen Klamm sind unglaublich beeindruckend.

Wenn sich das Staunen über die hohen Felswände etwas gelegt hat macht sich erstmal Ernüchterung breit: Am Lacu Rosu, dem berühmten Roten See, sind vor allem Pensionen und sonstige Touristenannehmlichkeiten zu sehen, die vor allem anderen die Landschaft verschandeln. Dazu kommt, dass der sogenannte Mördersee weder rot ist noch die vielbeschriebene gespenstische Atmosphäre hier herrscht. Aber wir wollen ihm dennoch eine Chance geben und wandern auf dem schönen Weg einmal um ihn herum. Immer wieder sind in dem eher grün schimmernden Wasser die Stümpfe umgestürzter Bäume zu sehen, und an manchen Stellen ist der See noch zugefroren. Einige Märchen und Legenden umranken den See, aber in Wahrheit ist hier vor fast zweihundert Jahren ein mit Nadelbäumen bestandener Hang in den damals noch kleineren See gerutscht, und die Überreste der Bäume ragen heute noch aus dem trüben Wasser. Auf dem Rundweg ist kein Mensch unterwegs, also können wir den See von seiner schönsten Seite erleben.

Dann ist es leider auch schon Zeit für uns, wieder in Richtung Heimat aufzubrechen. Einen kleinen Halt machen wir aber noch in Târgu Mures. Hier lebten im 18./19. Jahrhundert die berühmtesten ungarischen Mathematiker, Farkas Bolyai und sein Sohn Janos. Besonders letzterer lieferte einen entscheidenden Beitrag zur Entwicklung der Nichteuklidischen Geometrie. Im gleichen Gebäude, in dem die Teleki-Bibliothek untergebracht ist, findet sich auch ein kleines Museum zu Ehren der beiden Mathematiker; hier sind auch 20000 Seiten Originalmanuskript der beiden Gelehrten einzusehen. Dazu eine wunderbare Auswahl alter Bücher und viele Originalausgaben, zum Beispiel von Newtons "Principia Mathematica", Galilei oder Descartes. Graf Teleki, ein reicher ortsansässiger Adliger, hatte seine über 40000 Bände umfassende Sammlung bereits im Jugendalter begonnen und sie wird auch heute noch weiter gefüllt.

Nach 6035 gefahrenen Kilometern, 558,13 Litern verbrauchtem Diesel und knapp 9600 Fotos gönnen wir uns erstmal eine kleine Verschnaupfpause daheim, bevor es nach Norden weitergeht.

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