Sulina
Wie scharf gezackte Felsen ragt es vor uns aus dem stillen Wasser der Musura-Bucht. Darüber ein gewaltiger Himmel, gefärbt in Gelb- und Orangetönen der aufgehenden Sonne, die die vielen Schäfchenwolken zart einfärbt. Es ist kurz nach fünf Uhr morgens, aber alle Müdigkeit ist schnell gewichen, als wir uns dem Wrack der "Turgut" nähern. Der georgische Frachter ist 2009 während eines Sturms hier, nahe Sulina, auf eine Sandbank gelaufen und rostet seitdem langsam vor sich hin. Halb versunken ist das riesige Schiff, hat ordentliche Schlagseite. Wir gehen an Bord, klettern über die salzzerfressene Reling, erkunden das Oberdeck und blicken in das tiefe schwarze Loch das Frachtraums. Eine unwirklich anmutende Welt inmitten des ruhigen Wassers. Wir befinden uns an der Mündung der Donau ins Schwarze Meer.
Über 2800 Kilometer hat sie bereits zurückgelegt, wenn sie im Osten Rumäniens ankommt. Breit und behäbig fließt sie hier, ihr Wasser führt Sedimente mit, die sie schlammig färben und von ihrer langen Reise erzählen. Die Donau, der längste Fluß Europas (wenn man die Wolga im europäischen Teil Russlands nicht mitrechnet), die in der Nähe von Donaueschingen in Süddeutschland entspringt und durch zehn Länder hindurch oder zumindest direkt an ihrer Grenze entlangfließt, kommt hier in der Dobrudscha etwas zur Ruhe. Sie bildet kleine und größere Inseln in ihrer Mitte und schließlich spaltet sich ein ganzer Flussteil Richtung Norden ab: der Chilia-Arm, der die natürliche Grenze zur Ukraine bildet. Bei Tulcea dann erneut eine Aufteilung, hier trennen sich der mittlere und am meisten von Schiffen befahrene Sulina-Arm und der wildere und wenig begradigte, südliche Sfântu Gheorghe-Arm voneinander. Zwischen diesen drei Wasseradern liegt das Donaudelta, eine der außergewöhnlichsten Naturlandschaften Rumäniens.
Wir sind bereits zum dritten Mal in dieser Gegend unterwegs und wollen diesmal den Sulina-Arm etwas genauer erkunden. Also stellen wir unseren Dicken vor dem Grenzpolizeiposten in Tulcea am Hafen ab und besteigen ein gemütlich dahintuckerndes Boot, das für die Bewohner der kleinen Orte entlang der Wasserstrasse oft die alleinige Verbindung zu der einzigen großen Stadt weit und breit darstellt. Partizani, Maliuc und Crisan gleiten an uns vorüber, kleine Fischernester verborgen hinter dichtem Baumbestand. Störche füttern ihre Jungen auf den Schornsteinen der wenigen Gebäude, die man hie und da vom Wasser aus sehen kann. Und über uns kreisen in großen Schwärmen, fast wie in Zeitlupe, jene majestätischen Vögel, die uns immer wieder begegnen werden auf dieser Reise - Rosapelikane, die hier in großen Kolonien vorkommen.
Nach etwa vier Stunden Fahrt ergießt sich der mittlere Donauarm schließlich ins Schwarze Meer. Die Sedimente, die der Fluss jahrtausendelang abgeladen hat, bilden den Boden, auf dem heute das Städtchen Sulina steht. Es gibt hier einen alten, weißgekalkten Leuchtturm, an dessen Fuß ein herrlicher Blumengarten in allen Farben leuchtet und von dessen Spitze aus man das Meer gerade noch erkennen kann. Die gewaltigen geschliffenen Glaslamellen seines Leuchtwerks weisen heute keinem Schiff mehr den Weg, zu weit hat die Donau in den letzten 60 Jahren die Küstenlinie Richtung offenes Meer verschoben. Am Hafen wartet bereits Calin auf uns, ein braungebrannter, drahtiger Mann mittleren Alters, den Schlapphut tief ins lächelnde, bärtige Gesicht gezogen. Wir beladen sein Mountainbike mit einem Teil unseres Gepäcks und dann geht es zu seinem kleinen Refugium am Ortsrand. Calin ist gelernter Landvermesser und wohnt einen guten Teil des Jahres im fernen Timisoara ganz im Westen des Landes, wo auch seine Frau und Tochter leben. Aber wann immer er kann und das Wetter es zulässt, kommt er hierher ins Delta. Zu dem kleinen Wohnwagen, den er auf einem idyllisch grünen, gepachteten Stück Land aufgestellt hat, und den er uns für die nächsten paar Nächte zur Verfügung stellt, während er in einem Zelt nächtigt. Zu seinen drei Hunden, die er von der Straße aufgelesen hat und die sich gierig auf jede Mahlzeit stürzen, die er ihnen liebevoll bereitet. Zu seinem ganz persönlichen Stückchen Freiheit. Calin ist kein Reiseführer und auch kein Wildnis-Experte. Viel besser, er ist jemand, der die Natur und das Delta liebt, und dessen Begeisterung, Offenheit und Liebenswürdigkeit die Zeit, die man mit ihm verbringt, unvergesslich machen.
Gleich am ersten Abend führt er uns zum alten Friedhof von Sulina. Viel deutlicher als in dem kleinen Museum am Fuße des Leuchturms mitten im Ort kann man hier die wechselvolle Geschichte der Stadt erahnen. Neben rumänischen Namen finden sich hier auch viele deutsche, ungarische, russische, armenische und griechische. In der Nachbarschaft orthodoxer Kreuze gibt es in Stein gemeißelte Halbmonde und Davidssterne. 1856 wurde Sulina Sitz der Europäischen Donaukommission; noch heute verfallen ihre einst prächtigen Bauten in der Nähe des Hafens. Diese internationale Verwaltungsbehörde der Donauschifffahrt sorgte nicht nur dafür, dass sich zahlreiche Konsulate in Sulina ansiedelten, sie brachte auch viele Nationen friedlich auf diesem abgelegenen Fleckchen Land zusammen. Aber der 2. Weltkrieg machte der aufstrebenden Stadt den Garaus. Nur die Toten aus jener glanzvolleren Zeit ruhen noch hier, und über ihren Leibern wächst Klatschmohn und Rittersporn. Am rötlich angehauchten Abendhimmel fliegen Bienenfresser ihren rasanten Zickzackkurs und ihr buntes Gefieder leuchtet hie und da im letzten Sonnenlicht auf. Als wir zu Calins Wohnwagen zurücklaufen erwischen wir ein Rudel Straßenhunde, dass sich beim Versuch, einen Igel zu ärgern, blutige Nasen holt.
An manchen Stellen im Delta haben Donau und Schwarzes Meer gewaltige Dünen aufgetürmt. In Caraorman weiter im Süden, und ganz in der Nähe von Sulina, nahe des Dörfchens Letea. Auf Satellitenbildern kann man ihren halbmondförmigen Verlauf sehr gut erkennen. Wir besuchen die Altgläubigen-Siedlung Letea mit Calin und ein paar rumänschen Touristen. Unser Pferdekarren holpert über die sandigen Dorfstraßen, vorbei an wunderschönen winzigen, weißen Häusern, nahezu alle haben hellblau gestrichene Fensterläden und Türen, die typischen Farben des Deltas. In den Gärten blühen Rosen und allerhand andere Blumen, hie und da kläfft ein Hund die Pferde an. Folgt man ein Stück weit dem Deich, der sich an dichten Rohrfeldern und kleinen Wasserläufen vorbeischlängelt, gelangt man zu einem Urwald, der sich an die Dünen schmiegt. Vereinzelt führen schmale Wege und Pfade durch das Dickicht, sonst ist hier alles naturbelassen; dicke, knorrige Baumstämme recken ihre weitverzweigten Kronen gen Himmel und bohren ihre verschlungenen Wurzeln ins sandige Erdreich.
Am besten läßt sich das Donaudelta aber von einem Kajak oder Kanadier aus erkunden. Wir entscheiden uns für einen Dreier-Wanderkanadier und versuchen nicht daran zu denken, dass unsere komplette Kameraausrüstung so dem Wasser empfindlich nahe ist. Calin führt uns durch ruhig dahinfließende Kanäle und kleine, verwachsene Wasserpfade, bei denen wir manchmal umdrehen müssen, weil im dichten Röhricht kein Durchkommen ist. Immer wieder begegnen wir Schwänen mit ihren Jungen, Haubentauchern, Reihern und natürlich Pelikanen - einmal sehen wir sogar einen der sehr selten vorkommenden Krauskopfpelikane. Im Wasser schwimmen zahllose Schnecken, und wenn es klar und nicht sehr tief ist, sehen wir immer wieder Fische und Schlangen über den Grund huschen. Wir legen an einem Deich an und holen das Boot an Land. Nur wenige hundert Meter vor uns breitet sich jenseits eines schmalen Landstreifens blendend blau das Schwarze Meer aus. Der helle Sandstrand ist völlig verlassen, nur ein paar Kühe trotten in einiger Entfernung Richtung Horizont. Der ideale Ort, um ins kühle Nass einzutauchen oder etwas im Schatten der wenigen knorrigen Büsche hier zu dösen.
Der nächste Morgen führt uns abermals in die Musura-Bucht. Das kleine Boot schaukelt bedenklich in den recht hohen Wellen, es ist kaum möglich, ein scharfes Foto zu machen. "Dann steigt doch einfach aus.", schlägt unser Begleiter vor. Calin macht es vor, und zu unserer großen Überraschung ist das Wasser hier, gefühlt mitten im Meer, gerade einmal knietief. Wir stehen mitten auf einer Sandbank, die Donau ist dabei, hier eine neue Insel aufzuhäufen. Diese gewaltigen Sandbänke lassen nicht nur Unglücksfrachter auflaufen, sie bieten auch Raum für neues Leben. Nur wenige Meter von uns entfernt, da wo die junge Insel bereits aus dem Wasser ragt, tummelt sich eine große Menge Rosapelikane und Möwen. Unter ihnen viele flauschige Küken, die vielleicht hier, auf dem neugeborenen Eiland, auch das Licht der Welt erblickt haben.
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