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Kolahalbinsel

Manche sagen, hier finde man die letzte wahre Wildnis Europas. Für andere ist sie vom jahrzehntelangen, exzessiven Bergbau schwer gezeichnetes Hinterland. Einige finden hier heilige Stätten und mystische Landstriche. Die Kolahalbinsel präsentiert sich uns beim ersten Kennenlernen vor allem als ein Stück unberührte Natur. Jenseits der wenigen Straßen und Pisten liegen viele tausend Quadratkilometer, auf die möglicherweise noch nie ein Mensch seinen Fuß gesetzt hat. Manche Dörfchen, besonders an der Nord- und Ostküste, sind nur vom Wasser aus erreichbar.

Unser Tor zu Kola ist die Stadt Kandalakscha im äußersten Südwesten der Halbinsel. Auf dem Weg dorthin passieren wir eine gedachte Linie, deren Name schnell an Schnee, Eis und Kälte denken läßt: den nördlichen Polarkreis bei 66°33' Nord. Wir sind offenbar nicht die ersten, die diesem besonderen Breitenkreis ebensolche Bedeutung beimessen, denn die schlichte blaue Markierung mit der russischen Bezeichnung für "Polarkreis" als Aufschrift steht in einem Meer aus Steinmanderln und zurückgelassenen Stoffresten, die an die umstehenden Bäume und Büsche gehängt und geknüpft wurden. Auch wir "opfern" ein kleines Bändchen und binden es an einen der Birkenzweige. Und natürlich will jeder mal auf dem Polarkreis photographiert werden, da darf auch der Familienhund nicht fehlen.

In Kandalakscha beziehen wir ein Zimmer im zentralen Hotel Belomorje, laut Internetstimmen eines, in dem man auf keinen Fall übernachten sollte. Wie wenig man auf solche Aussagen geben kann, zeigt sich schnell und nicht zum ersten Mal. Von außen betrachtet ist es zwar ein Klotz aus besten Sowjetzeiten, aber unser Zimmer ist gemütlich und sauber, und das Frühstück hervorragend. Eine sehr fürsorgliche ältere Dame erklärt uns sogar, was da alles aufgetischt ist, wovon wir zwar nur die Hälfte verstehen, aber den Rest durchprobieren. Besonders lecker sind die weichen, mit Kraut gefüllten Brötchen.

An der südlichen Küste der Kolahalbinsel zieht sich von Kandalakscha über Umba bis Varzuga eine einzige Straße am Weißen Meer entlang, der Terskij-Küstenweg. Ein großer Teil ist in gutem Zustand, da erst neu asphaltiert, und zur Südseite hin eröffnen sich hier immer wieder grandiose Ausblicke auf die Inseln im Meer, auf steinerne Flüsse und kleine, sich ans Land schmiegende Fischerdörfchen. Hinter Umba hört der Asphalt jedoch auf und die Straße setzt sich als geschotterte Wellblechpiste fort. Kleine Seitenwege führen in die angrenzenden Wälder und zum mal näher, mal ferner gelegenen Ufer des Weißen Meeres. Die sumpfige Landschaft ist stets im festen Griff der Stechmücken, die hier rund um die Uhr sehr saugfreudig und anhänglich auftreten.

Hier hatte einer wohl Schrotkugeln übrig.

Auf der Straße ist kaum Verkehr und so ergibt es sich, daß wir auf einer langen Geraden weit vor uns etwas auf der Fahrbahn sehen. Langsam rollen wir näher und erkennen, daß es mehrere Tiere sind; zu groß für Hunde, wir denken an Rentiere. Bevor wir dies mit Sicherheit sagen können, verschwinden die Tiere im Wald links der Fahrbahn. Beim Vorbeifahren schauen wir in drei Bärengesichter, zwei Jungtiere mit ihrer Mutter. Augenblicklich treten wir kräftig auf die Bremse und rollen zurück. Und da sitzt, kaum fünfzehn Meter von uns entfernt, ein sehr heller Jungbär und schaut uns neugierig aus dem Unterholz heraus an. Natürlich befindet sich das Weitwinkel auf der griffbereiten Kamera und jedes Tele ist außer Reichweite. Aber dennoch ist es unglaublich wie lange und interessiert wir Aug in Auge mit dem jungen Bären dastehen, bis er sich langsam in den Wald davonmacht.

Zwischen Umba und Varzuga überqueren wir den Nordpolarkreis erneut, diesmal allerdings zunächst nach Süden und kurze Zeit später wieder in nördliche Richtung. Hier macht sich ganz klar bemerkbar, wie wenig Menschen diese Küstenstraße befahren, denn am deutlich markierten Polarkreis finden sich diesmal kaum Hinterlassenschaften von Besuchern.

Nebelschwaden haben sich in den bewaldeten Hängen verfangen und quälen sich langsam über die Bergrücken. Ein grauer Himmel hängt tief und scheint auf den Hügeln aufzuliegen. Aus den Wäldern ragen unzählige Plattenbauten und immer wieder Schornsteine der Industrieanlagen, aus denen allerorten Rauch aufsteigt und sich sogleich mit dem Dunst vermischt.

Kirovsk, einige hundert Kilometer nördlich von Kandalakscha im Inneren der Halbinsel gelegen, steht in krassem Gegensatz zu der schönen Natur, in der seine Siedlungen gebaut wurden. Grau spiegeln sich die trostlosen Hochhäuser in den riesigen Pfützen, wirken fast wie Eingänge zu einer anderen Welt. Überall Industriebetriebe mit rauchenden, rot-weißen Schornsteinen - hier wird unter anderem das in der nahen Stadt Apatity abgebaute, vor Ort sehr häufig vorkommende Mineral Apatit aufbereitet.

Inmitten der grauen Plattenbauten und Fabriken finden sich aber immer wieder kleine Farbtupfer, wie die orthodoxe Kirche am Ortseingang...

... oder das kleine, lustige Denkmal, das man den Minenarbeitern in der Nähe des Bergbaumuseums gesetzt hat.

Ein großer Bruder unseres Dicken.

Und in einer kleinen Einkaufspassage finden wir unverhofft einen der leckersten Snacks, die wir je gegessen haben: Fisch im kunstvoll hergestellten Teigmantel.

Wir fahren von hier aus in die Chibinen, den größten Pluton auf unserer Erde. Vor zwei Milliarden Jahren stieg hier ein Magmapropf aus dem Erdmantel auf und bildete diese fast halbkreisförmige Hügelformation. An vielen Hängen liegt noch Schnee und unser Atem bildet zarte Dunstschleier. Es ist kalt und der Blick in den Himmel bringt die Gewissheit, daß sich heute wohl die Sonne nicht mehr blicken läßt. Am Abend sitzen wir am Feuer inmitten der Berge, knisternd wärmt es uns und immer wieder sprühen Funken in den kühlen Nachthimmel. Zeitweise ist von den Chibinen, die uns umgeben, gar nichts mehr zu sehen, so tief hängen die schweren Wolken, und wir fühlen uns ein klein wenig so als wären wir völlig allein in dieser schönen Gegend.

Am nächsten Morgen hat sich das Bild nicht wirklich verändert, immer noch verhängt dichter Nebel die Gipfel der kahlen Berge. Unseren Plan, auf einen der nahen Hügel zu steigen und uns einen Überblick von oben über die Chibinen zu verschaffen, können wir also getrost vergessen. Wir fahren noch ein Stück ins Kunijok-Tal hinein, welches im Sommer nur mit Geländewagen passierbar ist, aber aufgrund des schlechten Wetters streichen wir irgendwann die Segel.

Eine der unter Russlandfahrern so berüchtigten GAI-Stationen. Hier wurden vor einiger Zeit noch fleißig durchfahrende Autos, und mit Vorliebe ausländische Reisemobile, kontrolliert. Heute ist davon nichts mehr zu spüren, die Stationen sind oft verlassen und verfallen, und in dreißig Tagen Russlandfahrt geraten wir in keine einzige Polizeikontrolle.

Unser Weg führt uns weiter nach Norden mit dem Ziel Lowozero, der Hauptstadt der Sámi in Russland. Wer nun einen prachtvollen Ort mit beeindruckenden Gebäuden erwartet hat, wird schwer enttäuscht. Die Gemeinschaft der Sámi in Russland zählt gerade einmal um die 2000 Mitglieder, und längst nicht alle können oder wollen sich mit der Erhaltung ihrer uralten Kultur beschäftigen.

Aber einige tun es dennoch, und so findet man im ansonsten etwas schwindsüchtigen Lowozero bei genauerem Hinsehen doch ein Kulturzentrum in Form eines der typischen Samen-Zelte, eines Tschum. Und im sorgfältig eingerichteten Sámi-Museum zeugen schöne Exponate von der Frühzeit der Besiedlung der Kolahalbinsel, der traditionellen, nomadischen Lebensweise und auch von der jüngeren Geschichte dieses Volkes im Zweiten Weltkrieg sowie der Sowjetunion, welche versuchte, die Nomaden endgültig sesshaft zu machen. Leider sind alle Beschriftungen nur auf Russisch, und mit den netten, älteren Damen, die das Museum betreuen, können wir uns auch nur mit ein paar Brocken ihrer Sprache und Händen und Füßen unterhalten. Aber einen Besuch ist das Museum dennoch in jedem Fall wert.

Dank der Museumsdamen haben wir nach unserem Besuch dort auch eine ungefähre Idee, wo wir echte Rentierfelle von den samischen Züchtern aus der Gegend bekommen könnten. Einige von ihnen leben immer noch zumindest halbnomadisch und hüten riesige Rentierherden. Diese leben eigentlich wild auf Kola, werden aber von den "Rentierhirten" beschützt, heute mit Helikopter, Motorrad und Motorschlitten. Nach etwas Suchen finden wir schließlich einen kleinen Souvenirladen in einem unscheinbaren Haus, an dessen Außenseite nichts auf diesen Laden hinweist. Aber dem Geruch nach sind wir hier richtig. Inmitten von viel Kitsch und einer Unmenge an Stiefeln aus Rentierfell finden wir schließlich "unser" Rentierfell. Es ist sogar markiert, aber schön dicht und weich. Von nun an erfüllt immer ein leichter Hauch von Rentier bei unserer Weiterfahrt den Dicken.

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