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Der Archipel Solowetzki

Nervös hüpft die Kamera auf und ab. Bei jedem Stein, jeder Wurzel, überhaupt jeder kleinen Unebenheit droht sie aus dem kleinen Korb vorne am Lenker zu springen.

Wir haben uns am Morgen zwei Räder geliehen, keine "Speedbikes", wie uns die nette Dame mitteilt. Und wir sind froh drum, sind diese einfachen Eingangräder mit Rücktrittbremse doch irgendwie das Pendant zu unserem Dicken, gemütlich, langsam, bequem. Wir haben seit dem ersten Meter Spaß und legen die paar Kilometer durch den Wald, wo wir die letzte Nacht in einem Feriencamp verbracht haben und für die wir am Abend zuvor eine gefühlte Ewigkeit bepackt mit unseren Rucksäcken und Stativ benötigt haben, innerhalb kürzester Zeit zurück. Bald schon stehen wir an einem kleinen See, in dem sich die Ostseite der Klosteranlage von Solowetzki spiegelt.

Solowetzki ist der Name einer Inselgruppe im Weißen Meer, und dieser Name hat auch heute noch einen tragischen Beigeschmack. Es gibt für Besucher zwei Hauptwege auf die größte der Inseln des Archipels; von Belomorsk aus benötigt ein Boot vier Stunden und aus dem etwas nördlicher gelegenen Fischerdörfchen Rabocheostrovsk gelangt man in zwei Stunden dorthin. Wir haben genug vom grauen Belomorsk und wollen so viel Zeit wie möglich auf Solowetzki verbringen, also entscheiden wir uns zunächst für die Weiterfahrt. Und lernen die ansonsten tadellose M18 dank einiger Großbaustellen auch mal von ihrer schlammigen und holprigen Seite kennen.

Will man nach Rabocheostrovsk an die Weißmeerküste, fährt man erstmal durch das Städtchen Kem. Hier prallen ziemliche Gegensätze aufeinander. Manche Ecken gleichen eher einem malerischen kleinen Dorf mit gepflegten Holzhäuschen, und deren stolze Besitzer laden uns sogar auf ihren Grund und Boden ein und lassen uns bereitwillig fotografieren.

Eine der Kirchen des Ortes ist nur noch ein Schatten ihrer selbst, die schöne Eingangtür mit reichen Schnitzereien erinnert noch an bessere Zeiten. Es finden immer noch Gottesdienste darin statt, tief im Bauch des verfallenden Gebäudes wurde ein kleiner Altarraum mit ein paar Ikonen geschmückt. Und wenn genügend Geld da ist, wird Schritt für Schritt wieder aufgebaut, das Backsteingerüst des Glockenturms steht schon zum Teil.

Die alte Holzkirche von Kem ist noch in einem wesentlich besseren Zustand, stolz ragen ihre schwarzen Türme in den blauen Nachmittagshimmel.

Auf dem kleinen Marktplatz bekommt man neben jeder Menge Kleidung auch alles für den nächsten Jagd- oder Angelausflug. Und an unserem Lieblingsstand gibt es Gewürze aller Art, die allgegenwärtigen Moltebeeren und das beste Halva, hier eine Mischung aus Hausschokolade, Nüssen und Rosinen.

In Kem befand sich zu Sowjetzeiten die Lagerverwaltung des Gulags auf Solowetzki, und nach dem Zweiten Weltkrieg stand hier das Hospital 1755 für deutsche Kriegsgefangene, insbesondere Frauen. Heute erinnert nicht mehr viel an diese finsteren Zeiten, aus einem noch stehenden Gebäude der Lagerverwaltung wurde im Laufe der Jahrzehnte eine Kantine.

Für die im Kriegsgefangenen-Hospital gestorbenen Frauen gibt es ein kleines Mahnmal am Ufer des Flusses Kem; in eine ehemalige Zellentür aus bereits verwittertem Holz wurden die Namen der Toten eingraviert. Ohne große Erklärungen sind Namen wie Schubert in kyrillischen Buchstaben letzte stumme Zeugen der Vergangenheit. Dass wir das leuchtend blaue Kreuz mit der Zellentür überhaupt gefunden haben, haben wir vor allem Alexei Djatlov zu verdanken, den wir ein paar Stunden zuvor im Hotel Prichal in Rabocheostrovsk kennenlernen. Eigentlich arbeitet er in Archangelsk in einer Werbeagentur, ist aber auch hier auf der anderen Seite des Weißen Meeres in Sachen Touristinformation unterwegs. Nachdem wir mit einem einzigen Foto des blauen Kreuzes gerüstet dort auftauchen und fragen, wo wir das finden können, die junge Frau aber nur mit den Achseln zucken kann und es selbst zum ersten Mal sieht, schaltet sich Alexei ein. Sein Interesse ist geweckt und er gibt uns seine Telefonnummer. In einer Stunde sollen wir ihn anrufen und bis dahin will er in Erfahrung bringen, wo wir das Kreuz finden können.

Er lotst uns abseits der Straße durch dichtes Buschwerk zunächst zu einem Denkmal für ungarische Gefallene, und dann stehen wir auch schon vor unserem gesuchten blauen Kreuz. Alexei kannte bis zu diesem Moment dieses kleine Mahnmal selbst nicht und ist sichtlich gerührt. Er entschuldigt sich noch bei uns, daß nichts näher erklärt ist, wo doch hier deutsche Lagerinsassen ihr Leben verloren haben. Ganz in der Nähe befindet sich ein Hügel mit einem orthodoxen Kreuz zum Schutze der Seefahrer.

Auch Alexei geht gern auf Reisen, und besucht am liebsten die Orte und Restaurants, die auch die Einheimischen aufsuchen; im Kunstmuseum in Dresden hat er seiner Freundin einen Heiratsantrag gemacht. Als Dankeschön für seine große Hilfe akzeptiert er kein Geld, sondern freut sich sehr über einen kleinen Bären und eine Tafel deutsche Schokolade. "Im Winter, wenn ich eingeschneit in Archangelsk herumsitze, kann ich mich so besser an unsere Begegnung erinnern.", lacht er.

Für die Nacht vor unserer Abfahrt nach Solowetzki quartieren wir uns im Hotel Kuzowa in Kem ein, dessen Empfangsdame kein Englisch spricht, also mit unserem russischen Gestammel klarkommen muss; und dies mit einer solchen Herzlichkeit und Geduld tut, dass all unsere Fragen und Problemchen geklärt werden können. Einzigartig der Schlüssel zur Dusche, den man bei Verlust allerdings ganz schnell ersetzt bekommt. Für große Freude sorgt bei uns die überraschende Reservierungsbestätigung eines Feriencamps auf Solowetzki. Obwohl man uns allerorten gesagt hatte, dass alle Zimmer auf der Hauptinsel wegen einer Regierungskonferenz in den nächsten Tagen belegt seien, zeigt unsere Anfrage per Mail Erfolg und wir haben ein Quartier!

In Rabocheostrovsk herrscht Ebbe als wir am nächsten Vormittag dort ankommen. Das sich zurückziehende Meer gibt allerhand preis, vom Autoreifen und Treibholz bis zu Müll aller Art.

Am Hafen zeigt der Blick aufs Weiße Meer auch eine der letzten Baracken, die noch zur ehemaligen Solowetzki-Lagerverwaltung zu zählen sind; heute verrostet und verfällt sie auf einer kleinen Insel vor der Küste.

Wir treffen auch Alexei wieder, der die heutige abendliche Fuhre Besucher auf die "Vasilij Kosjakow", das schon leicht verbeulte, leuchtend weiß-blaue Schiff nach Solowetzki geleitet. Und er läßt es sich nicht nehmen, uns als erste durch die Absperrung zu lassen, so dass wir auf Deck freie Auswahl haben. Bei herrlichem Wetter, aber teils ordentlichem Fahrtwind tuckern wir dann gemütlich durch das Inselparadies vor der Küste, immer umschwärmt von einem Dutzend Möwen, die sich gerne füttern lassen. Zu allen Seiten hin eröffnen sich uns weite Blicke auf karge Inseln, kleine Leuchttürme und endloses Wasser.

Am Horizont tauchen immer wieder die weißen Rücken der hier heimischen Belugawale auf. Und so sind wir uns sicher, daß uns mit diesem detaillierten Bild ein heißer Kanditat für den "Wildlife Photography of the Year"-Preis geglückt ist!

Das Sonnenlicht liegt warm über der Insel als wir uns von Westen her nähern und die Silhouette des Kremls sich langsam gegen den Horizont abzeichnet. Bereits im 15. Jahrhundert stand hier ein Kloster und war einige hundert Jahre lang geistiges Zentrum der ganzen Region. Katharina die Große brachte hier erstmals ein Gefängnis unter, und die Idee wurde von den Bolschewiken wieder aufgegriffen und ausgebaut. Als Alexander Solschenizyn sein bekanntestes Werk "Der Archipel Gulag" schrieb, dachte er dabei auch an Solowetzki, welches als Muster für viele der späteren Straflager diente. Von dieser finsteren Vergangenheit ist am Abend unserer Ankunft nichts zu spüren, nur unsere Gedanken erinnern uns an das, was auf dieser so friedlich daliegenden Insel einst vorfiel. Die kleinen bunten Fischerhütten liegen verträumt im Abendlicht, ein paar UAZ-Busse rattern über die staubigen Straßen und wir stehen staunend vor den dicken Mauern der Klosteranlage.

Hier würde selbst unser Dicker ein wenig neidisch werden.

Aber wir können die abendliche Stimmung nur kurz genießen, müssen wir doch schauen, dass wir unser gerade noch ergattertes Zimmer für die Nacht nicht verspielen. Nach einem längeren Fußmarsch stehen wir schließlich mitten im Wald inmitten einer Ansammlung von leuchtend rot gestrichenen Holzhäuschen - und in einem davon beziehen wir unser Quartier für die Nacht. Das leckere Frühstück mit Kascha (Porridge auf russische Art) und Kaffee vertreibt am nächsten Morgen jede Müdigkeit. Und als wir dann auf unseren einfachen Drahteseln sitzen und uns über den Sonnenschein freuen, ist die Welt wieder völlig in Ordnung. Auf der Insel sind nicht allzu viele Automobile unterwegs, und ein guter Teil davon sind unsere Lieblings-Bussle.

Die Außenmauern des gewaltigen Kreml trotzen bereits seit Jahrhunderten jedem Einfluß. In den Spalten zwischen den dicken Steinen des Mauerwerks wachsen zahlreich dunkelblaue Blumen. Die Holzdächer wurden bei manchen der acht Türme durch Metall ersetzt. Man vermutet es bereits von außen, und sobald man den Innenhof der Anlage betritt, bestätigt es sich ohne jeden Zweifel: Solowetzki ist dieser Tage (und das wohl schon eine ganze Weile) eine einzige, riesige Baustelle. Überall Gerüste aus Metall und Holz, Baumaterialien stapeln sich allerorten und es sind beinahe so viele Bauarbeiter wie Besucher zu sehen. Die gewaltigen Glocken der Klosterkirchen wurden wegen der Renovierungsarbeiten in einen vermutlich eigens dafür gebauten überdachten Pavillon im Hof aufgehängt, wo man sie nun ganz aus der Nähe bewundern kann; natürlich geben sie auch ein beliebtes Motiv für alle Selfie-Freunde ab. Wir machen eine kleine Pause und gönnen uns selbstgemachten Kwas und Gebäck von der Klosterbäckerei. Die wenigen Gebäudeteile, die man betreten kann, sind karg und teils noch mitten in der Renovierung begriffen; in einem der langen Galeriegänge finden wir eine Ausstellung, die sich augenscheinlich mit der teils unschönen Vergangenheit des Klosters auseinandersetzt; wie kritisch die Sache hier behandelt wird, können wir aufgrund der rein russischen Bildunterschriften aber kaum erraten.

Eine kleine Kirche, die zur Zeit eher aushilfshalber für die Gottesdienste genutzt wird, wirkt überraschend herausgeputzt und ist voller schöner Ikonen und kleiner Reliquienschreine. Verschleierte Frauen sind im Gebet versunken, und vor dem Altarraum sitzen viele Besucher und schreiben auf kleine Zettel die Namen von Lebenden und Toten, die ihnen am Herzen liegen und für die die Mönche beten sollen. Insgesamt leben auf dem weitläufigen Klostergelände noch zehn Mönche, wobei ein guter Teil der Anlage heute dem russischen Staat gehört und als Museum eingerichtet wird.

Da wir glücklicherweise unsere Fahrräder für den ganzen Tag gemietet haben, beschließen wir, auch von der restlichen Insel zumindest noch einen kleinen Teil zu erkunden. Auf zunächst staubigen Pisten durchfahren wir das kleine Dörfchen, welches um den Kreml herum verteilt liegt, mit seinen kleinen Geschäften und etwas baufälligen Wohnhäusern. Immer wieder begegnen uns Kühe oder Ziegen, die auf den kleinen Wiesen und Grünstreifen weiden. Schließlich holpern unsere Räder über wurzelübersäten Waldboden, und wir stehen kurze Zeit später an einem wunderbar weitläufigen, mit Felsbrocken und Vögeln aller Art bevölkerten Küstenabschnitt. Unweit des Wassers finden wir Steinlabyrinthe, die, zwar immer wieder erneuert, vielleicht Zeugen uralter Siedler auf den Solowetzki-Inseln darstellen; ihre genaue Datierung ist äußerst schwierig.

Am Abend, bevor unser verbeulter Kahn sich wieder in Richtung Rabocheostrovsk aufmacht, sitzen wir noch eine Weile an einem kleinen See unweit des Kreml, bestaunen den herrlichen Blick auf die Anlage und genießen des wunderbare Sonnenlicht.

Bei fast spiegelglatter See verlassen wir die Insel Solowetzki, der wir so gerne noch mehr unserer Zeit gewidmet hätten, mit dem festen Vorsatz, wiederzukommen. Wir haben es uns wieder einmal auf Deck gemütlich gemacht, als plötzlich nach und nach alle Passagiere, die uns vorher noch oben Gesellschaft geleistet hatten, sich nach unten verkriechen. Der Wind wird eisig und schneidend und kräuselt zusehends die Wasseroberfläche. Als wir zum Bug schauen, stellen wir fest, dass vor und über uns eine beeindruckende Gewitterwolke seltsame Strukturen in den Himmel malt. Am Horizont regnet es mancherorts bereits heftig. Eine Zeit lang sieht es so aus, als würden wir mitten in das Gewitter hineingeraten, aber letztlich bekommen wir nicht mal einen Regentropfen ab. Es zieht als schönes Schauspiel an uns vorbei und wird schließlich wieder von wolkenlosem Himmel abgelöst.

Ohne die grauenvolle Vergangenheit von Solowetzki jemals ins schwarze Loch des Vergessens verdrängen zu können oder wollen, sind wir heute doch einfach froh, dass die Insel für uns ihren Frieden wiedergefunden zu haben scheint, mit ihrer wundervoll ruhigen Natur arbeitet sie heute an der Wiederherstellung alten Glanzes - und hoffentlich auch an der Aufarbeitung der blinden Flecken im Rückspiegel ihrer Geschichte.

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