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In der Stadt der Runensänger und Bären

Die Klänge der Kantele, jenes uralten Saiteninstruments, das schon Väinämöinen, einer der Protagonisten des finnischen Nationalepos Kalevala, spielt, schweben verträumt durch den Raum. Die junge Frau singt dazu mit heller Stimme ein Hochzeitslied, keines aus der Kalevala, wie sie uns erzählt, sondern aus einem der zahlreichen Liederbände, die zum reichen dichterischen Erbe Finnlands zählen. Sie ist eine Art Nachfahrin der heute fast ausgestorbenen Tradition der Runensänger, die in früheren Zeiten Geschichten und Legenden in Versform von einer Generation zur nächsten mündlich weitergaben. "Runen" steht in Finnland nicht für das bekannte altnordische Alphabet, sondern sie sind einfach Gedichte, oft als Gesang vorgetragen.

In der Nähe der kleinen Stadt Ilomantsi in Nordkarelien hat man den traditionellen Sängern ein kleines Denkmal gesetzt. Im Runensängerhaus kann man nicht nur einiges über die Trachten der Karelier und die Kalevala erfahren, von der es hier eine ganze Sammlung von Ausgaben in den verschiedensten Sprachen gibt, sondern man kann eben auch den alten Klängen lauschen. Immer mehr junge Menschen würden sich für das Kantelespiel und die alten Lieder begeistern, erzählt uns die junge Frau, die selbst auch Unterricht gibt. "Die einfache Kantele mit fünf Saiten ist leicht zu lernen," berichtet sie, "man kann schnell etwas spielen, das sich nach einem Lied anhört." Wenn man es aber zu höherer Kunst bringen will, dauert das seine Zeit, es gibt das Instrument in vielen Varianten mit unterschiedlicher Saitenzahl, heute auch elektronisch.

Vor allem ihm haben die Finnen es zu verdanken, dass ihre alten Gedichte und Geschichten aufgezeichnet wurden: Elias Lönnrot.

Wir fühlen uns auf Anhieb wohl in Ilomantsi, nicht zuletzt auch deswegen, weil hier an jeder Ecke Bären anzutreffen sind. Steinern und zumeist hölzern schauen sie überall hervor. "Ihr müsst Ende August in die Stadt kommen", rät uns die freundliche Frau bei der Information im Stadtzentrum. "Da findet hier das Bärenfestival statt!" Im Zentrum der Festlichkeiten steht ein Wettbewerb, bei dem mit Motorsägen und anderem Gerät aus einem Baumstamm ein Bär wird - letztes Jahr sogar auf Weltmeisterschaftsniveau.

Freunde plüschigerer Gesellen kommen natürlich auch auf ihre Kosten - im Puppen- und Teddymuseum. Der "Winnie the Pooh" Finnlands, Uppo Nalle, ist zwar trotz intensiver Suche der beiden Mädchen vor Ort nicht auffindbar, dafür aber Teddys in allen Größen und Fellfarben..

Jürgen fragt sich beim Betreten des Hauses und als er all die Puppen in den Regalen sieht, was er gerade tut und ob er allen Ernstes ungezwungen in ein Puppenmuseum geht, aber Ruth ist inmitten all der Bären in ihrem Element. Es stellt sich heraus, daß es doch interessanter ist als gedacht oder zunächst befürchtet, sind viele der ausgestellten Objekte doch eng mit der karelischen Geschichte verknüpft. Wie zum Beispiel die orthodoxen Mönchspuppen.

Oder die auf eine lange Tradition zurückblickenden, alten karelischen Puppen. Sie wurden ohne Augen gefertigt, um nichts Böses sehen zu können, so dass die Kinder auch nichts Böses sehen. Und ohne Gesicht, also ohne Seele, um den Kindern nichts tun zu können. Sie wurden oft Frischvermählten als Glücksbringer und Schutz geschenkt.

Dann sind da Puppen aus aller Herren Länder, wie diese aus Russland.

Oder Puppen in Lotta-Uniform, wie die hier in der Mitte.

Die bekannten Martta-Puppen, die es in großer Vielfalt gab, waren von Hausfrauen handgefertigt, um ihnen zu mehr Selbstständigkeit und einem eigenen Einkommen zu verhelfen.

Dann gibt es da noch, laut den beiden Mädchen, die uns durchführen, "the only handsome guy in here" - in einer Polizeiuniform aus den sechziger Jahren..

.. und andere putzige Gesellen.

Wir schlagen unser Lager zunächst an einem kleinen See auf, trotz überteuerter Campinggebühr mit einer unschlagbaren Aussicht. Und wir haben eine kleine Blockhütte mit Küche im Grunde für uns, wo es am Morgen Porridge gibt.

In der Nähe von Ilomantsi gibt es nicht nur das Runensängerhaus zu entdecken. Ein kleines Dorf wurde dort in den 60er Jahren aufgebaut, wo man die originalen Holzhütten der Einheimischen begutachten kann. Man kann sich in die Tierwelt Kareliens entführen lassen, wenn auch nur mit präparierten Exemplaren, erfährt dort aber einiges über die Beziehung der karelischen Bevölkerung zur Natur und die Mythen, die dadurch im Lauf der Geschichte entstanden sind.

Das karge Leben der berühmten Runensängerin Mateli wird dort vorstellbar, wenn man ihre ärmliche Hütte betritt, die früher am Ufer des Koitere-Sees stand.

Und immer wieder begegnet man den beiden Kriegen, die nicht nur die heutigen Grenzen Finnlands, sondern auch seine Identität mitgeprägt haben. Erkki Raappanen, ein General an vorderster Front in Winter- und Fortsetzungskrieg, begegnet uns in seiner Hütte, mit seiner Begeisterung für Hunde und das Leben in freier Natur.

Auf dem Weg nach Ilomantsi durchfahren wir bereits das Rumpfdorf Hoilala - seit dem Ende des Fortsetzungskrieges liegt ein Teil des kleinen Örtchens auf russischer Seite. Eine kleine Ansammlung von Holzhäusern und die winzige orthodoxe Kirche sind noch in Finnland verblieben. Immer wieder stoßen wir auf Gedenksteine..

.. und müssen schließlich umdrehen, als wir vor dem Grenzstreifen zu Russland stehen, den man nur mit Sondergenehmigung befahren darf.

An einer Stelle, am östlichsten Punkt der EU in der Nähe des Städtchens Hattuvaara, geht es auch ohne Genehmigung. Russland ist plötzlich ganz nah, man müsste nur ein paar hundert Meter über den Virmajärvi-See schwimmen. Dort, auf einer kleinen Insel, stehen die beiden Grenzpfosten, weiß-blau für Finnland und rot-grün für Russland. Der Grenzverlauf ist auf absurde 0,1 m genau festgelegt.

An Zeiten, als dieser Grenzverlauf noch nicht festgelegt war, erinnert eine Gedenkstätte tief im Wald vor Hattuvaara. An Schützengräben, teils im ursprünglichen Zustand belassen, teils rekonstruiert, und Sprenglöchern vorbei kann man durch ein kleines Waldstück wandern. Hier errangen die schlecht vorbereiteten finnischen Truppen im Fortsetzungskrieg einen wichtigen Sieg über die Rote Armee, indem sie die russischen Soldaten einkesselten und von ihrer Versorgung abschnitten. Eine bedingungslose Kapitulation musste Finnland danach nicht mehr einstecken.

In Ilomantsi steht die größte orthodoxe Holzkirche Finnlands. Gelb mit grünen Dächern leuchtet sie im Abendlicht auf einem Hügel am Ortsrand. "Welcome - be yourself!" steht am Eingang. Und in einer Ecke können sich Kinder während des Gottesdienstes mit Plüschtieren und Malbüchern beschäftigen. Wir staunen angesichts solcher Offenheit. Die wertvollste Ikone, eine Muttergottes vor tiefblauem Hintergrund, stammt aus einem kleinen Dorf, das früher finnisch war, seit dem Krieg aber auf russischer Seite liegt.

Ganz in der Nähe besuchen wir den Soldatenfriedhof der Stadt. In akkuraten, schön gepflegten Reihen liegen hier die gefallenen Söhne von Ilomantsi. Und einige ihrer Töchter sind auch darunter. Sie gehörten der Lotta-Bewegung an, einer Gruppe von Frauen, die sich in der Kriegszeit auch an der Front vor allem als Sanitäterinnen und bei der Versorgung der Truppen einbrachten.

Im nahen Dörfchen Möhkö sitzen wir am nächsten Tag im Bauch eines alten Kahns, mit dem vor Jahrzehnten Holz transportiert wurde. Wie so oft in Finnland stammt die Inneneinrichtung des inzwischen zu einem kleinen Café umfunktionierten Schiffes aus früheren Zeiten, und neben dem leckeren Kaffee und Kuchen gibt es meist handgemachte Kleinigkeiten.

Auch hier in Möhko haben die Kriege Spuren hinterlassen, das Haupthaus des ehemaligen großen Eisenwerkes war zeitweise Befehlsstand der Wehrmacht und nach Ende des Krieges wurde hier das Friedensabkommen unterzeichnet. Aber auch über friedlichere Zeiten erfährt man hier viel. In nachgestellten Szenen und beeindruckenden Schwarzweißphotos wird das harte Leben der Forstarbeiter nach dem Krieg lebendig, und im nahen Wald kann man die Reste des Eisenwerkes erwandern, wie einen aufgeschütteten Hügel aus der glasartig grünlich schimmerden Schlacke, die im Hochofen nach Verhüttung des Seeerzes als Abfall zurückblieb.

Im nahen Nationalpark Petkeljärvi finden wir einen günstigeren Campingplatz. Zum nahen See ist es auch nicht weit, und besonders zu später Stunde, wenn die Sonne kurz hinter dem Horizont versinkt, kann man sich keinen schöneren Platz vorstellen. Gut, ohne Mücken ließe sich das noch steigern.

Wer den Tatort "Tango für Borowski" gesehen hat, dem käme hier wohl einiges bekannt vor; wie der nette Campingwart uns berichtet, hätten einige seiner Freunde mitgespielt. "Mir hat er aber nicht so gut gefallen, ziemlich verrückt!", lacht er. Sein Sohn sei durch seine Mitarbeit aber in der Filmbranche gelandet. Wir müssen wohl mal wieder einen Tatort schauen, wenn wir wieder daheim sind.

Petkeljärvi eignet sich aber nicht nur als Kulisse für Krimis, es läßt sich dort auch wunderbar wandern, wenn auch eher auf kürzeren Wegen von unter zehn Kilometern. Dafür hat man meist seine Ruhe zwischen den lichten Kiefern und stiefelt entspannt auf Holzbohlen durch Moore voller Wollgras und über die teils sehr schmalen, von Wasser eingerahmten Kiesrücken, die die Eiszeit hier hinterlassen hat. Den Mücken gefällt es hier leider auch sehr gut, so dass wir Teile der Wanderstrecke durch ein Moskito-Kopfnetz erträglicher machen müssen.

Sind wir anfänglich noch mit einem britischen Ehepaar in seinem Kleinbus allein auf dem Platz und scherzen mit ihnen über Camper, die ihren halben Hausrat mitführen, so werden es besonders um Juhannus, also Mittsommer, herum immer mehr von ebendiesen Campern und diversen anderen Besuchern. Wie Marietta und Wolfgang aus Deutschland, die mit einem wahren Dickschiff unterwegs sind, und uns so einiges erzählen, von Wegelagerern in Russland bis hin zu Tipps für unseren nächsten Angelversuch. Wir genießen noch unser eigenes kleines Juhannus-Feuer mit leckerem Stockbrot und machen uns am nächsten Morgen auf in hoffentlich weniger besuchte Gefilde.

Einen wunderbaren Blick von oben auf Ilomantsi und den gleichnamigen See vor der Stadt verschaffen wir uns aber vorher noch. Dazu gilt es den ehemaligen Wasserturm der Stadt zu besteigen, oder noch besser mit dem Fahrstuhl hochzufahren. Heute findet man oben nicht nur die eben erwähnte großartige Aussischt, sondern auch ein sehr gemütliches Lokal mit hervorragendem Kaffee. Oder wahlweise etwas Hochprozentigem aus dem Hause Valaamo.

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