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Alte Frauen, Bären und ein Wildschwein

"Kommt da runter, ihr Idioten!" Der kahle Kopf des Rumänen ist puterrot vor Wut. "Habt ihr die Schilder nicht gesehen? Überall steht ´Hinaufklettern verboten!´!" Das Pärchen oben auf dem Felsen, dessen Form, aus einer bestimmten Richtung betrachtet, an ein Gesicht und manche Menschen an die Sphinx bei Kairo erinnert, kümmert das wenig. Im Gegenteil, der junge Mann amüsiert sich köstlich und schickt eine obszöne Geste Richtung Schreihals. Der brummelt noch irgendwas von Naturschutz, aber währenddessen klettern schon die nächsten zwei, Poncho und Cowboyhut, auf den "Sfinxu" genannten Felsen.

Dieser Felsen liegt im Bucegi-Massiv, das südöstlich von Brasov majestätisch über den touristenverseuchten ehemaligen Bergdörfern Azuga, Busteni und Sinaia thront. Im Sommer kriecht eine Blechlawine durch die von Souvenirbuden und Hotels gesäumten Orte, Polizisten dienen als Ampelersatz und versuchen die zahlreichen Fußgänger von einer Straßenseite zur anderen zu schaffen. Auch wir schwitzen eine ganze Weile in diesem zähen Verkehr und sind heilfroh, dass wir nicht das Schloß Peles auf dem Programm haben - ähnlich wie auf der Straße schieben sich die Touristen vermutlich auch durch die Sommerresidenz von Carol I. Die Felswände der Bucegi sind hier so steil, dass man sie nur über viele Stunden schwierigen Marsches mit Klettereinlagen bezwingen kann. Leider gelangen trotzdem jeden Tag Besuchermassen auf das Plateau in über 2000 Meter Höhe; eine Seilbahn fährt zur Hochsaison von Busteni aus im 15-Minuten-Takt hinauf.

Vor ein paar Jahren waren wir bereits hier und entdeckten damals eine kleine Straße, die wenige Kilometer hinter Sinaia von der Hauptstraße Richtung Targoviste abzweigte und zunächst über neuen Asphalt ohne Markierungen und Leitplanken und alsbald über eine holprige Piste auf das Hochplateau der Bucegi führte. Wir freuen uns bereits, diese Strecke wieder zu fahren; die Asphaltstraße hat mittlerweile Leitplanken und Beschilderung bekommen, womit nach fünf Jahren ja auch zu rechnen ist. Aber umso enttäuschter sind wir, als wir auf dem Dichiului-Sattel feststellen müssen, dass eine zwar noch nicht vollständig fertiggestellte, aber dennoch gut asphaltierte Straße zur Cabana Piatra Arsa führt. Das Fahrverbotssschild interessiert hier natürlich niemanden, und so gesellen wir uns zu einer gewaltigen Menge an PKWs, die hier auf der Weide kreuz und quer parken. Ein wenig fühlt es sich an, als hätte man uns unsere Bucegi gestohlen.

Aber es hilft alles nichts, wir machen uns zusammen mit vielen anderen, von denen die wenigsten Wanderschuhe und viele einen Selfie-Stick dabeihaben, an den Aufstieg zur Cabana Babele. Es existiert eine Piste vom improvisierten Parkplatz aus bis fast zur Hütte hoch, aber diese ist durch einen schweren Schlagbaum versperrt. Oben angekommen sind deutlich mehr Menschen da, als einem lieb sein könnte, denn die Kabinenbahn spuckt ständig neue aus, die von beiden Seiten des Massivs bequem hochfahren. Kleine Souvenirstände bieten in luftiger Höhe allerlei Tand und Süßkram an, und auch die von Ruth heißbegehrten gekochten Maiskolben gibt es hier oben zu kaufen.

Kein Wunder also, dass man den alten Damen zu Hilfe eilen musste. Die "Babele (rum.: alte Frauen)" sind eine besondere Felsformation, im Laufe der Jahrtausende durch Erosion entstanden, die direkt neben der Cabana Babele wie riesige steinerne Pilze aus dem Boden ragt. Da man der Kletterer nicht Herr wurde, die sich trotz zahlreicher Verbotsschilder auf den einzigartigen Gesteinsformationen austobten, hat man sie mittlerweile mit einem hässlichen Zaun umgeben. Womit wir wieder bei Cowboyhut und Poncho wären, die trotz ebenjener Schilder munter auf die noch nicht umzäunte Sfinxu klettern. Als der Protest der unten Stehenden immer lauter wird, klettern sie schließlich linkisch wieder herunter. Von Jürgen auf ihr dämliches Tun angesprochen fällt ihnen als Ausrede nur ein, sie hätten die Schilder nicht gesehen. Bald wird wohl auch der Anblick der felsigen Sphinx von einem Zaun verschandelt werden.

Sucht man sich einen einsamen Platz etwas abseits der Menge oder wandert auf einem etwas längeren Weg über Almen und durch schöne Krüppelkiefernwälder zurück zur Cabana Piatra Arsa, so sieht und spürt man aber doch, trotz der leidlichen Besuchermassen, wie wunderschön diese Berge sind. Tief stürzen die Felsabbrüche unterhalb des Heldenkreuzes nahe der Cabana Caraiman ins Tal. Von hier aus wirkt die Kabinenbahn nur noch wie ein kleiner grüner Fleck, der lautlos hinuntergleitet. So ruhig hat es sich vor fünf Jahren angefühlt, als wir außerhalb der Hauptsaison mit unserem Dicken die Piste hinaufholperten, vorbei an Schäfern und ihren grasenden Schützlingen, und als wir weit und breit die einzigen auf dem Plateau waren.

Zurück am Auto sind wir schnell von einer kleinen Hundeschar umringt, darunter zwei Welpen, die Geschwister zu sein scheinen und wie kleine Wölfe aussehen. Zu gern würden wir sie allesamt mitnehmen, aber leider müssen wir es bei einer ordentlichen Portion Futter belassen.

Unweit des Bucegi-Massivs liegt der felsige Kamm der Piatra Craiului. Fährt man durch das Städtchen Zarnesti am Fuße des Gebirges auf eine Schotterpiste in den Nationalpark hinein, so gelangt man nach einer serpentinenreichen Strecke in das idyllische Bergdorf Magura. Auf sanften Grashängen weiden Kühe, überall sieht man kleine Gehöfte mit unzähligen Heuhaufen drumherum und wenn der Wind die Wolken vertreibt ragen die Gipfel des Königssteins hoch über der Siedlung in den Himmel. Bei unserem Spaziergang durch Magura entdecken wir "La Ciocolata", eine urige kleine Kneipe mit wunderbar schiefen Bänken davor; während im winzigen Innenraum ein paar ältere Herren aus dem Dorf bei einer Flasche Bier ein Schwätzchen halten, machen wir es uns mit einer Dose Ursus Cooler auf der kleinen Terasse gemütlich.

Wir quartieren uns im Garten einer von Deutschen geführten Pension ein und schlagen unser Dachzelt unter einem Mirabellenbaum auf. Das Unschöne gleich vorneweg: Noch einmal würden wir diese Pension sicher nicht ansteuern. Angefangen bei horrenden Preisen (Das sonst selbst in der kleinsten Absteige kostenlose WLAN kostet hier 5 Euro!!) über einen Chef, der uns mitten im Gespräch stehen läßt bis hin zu dem Gefühl, als Camper hier Gast zweiter Klasse zu sein ist diese Unterkunft eine ziemliche Enttäuschung.

Aber etwas Gutes hat unser Besuch dort dennoch. Kaum haben wir unsere Lagerstätte für die Nacht aufgebaut, fragt uns einer der Mitarbeiter, ob wir Lust hätten auf Bärenbeobachtung, in zehn Minuten ginge es los. Keine Frage, wir sind natürlich dabei! Nach einer recht langen Fahrt in einem Kleinbus, zunächst durch kleine Dörfer und dann durch ein einsames Waldgebiet, erwartet uns ein Förster mit geschultertem Gewehr am Ufer eines Baches. Über eine improvisierte Brücke wird die kleine Gruppe zu einem Holzhäuschen auf Stelzen geführt, von dem aus sich durch ein riesiges Fenster eine Lichtung sehr gut einsehen lässt, wo der Wildhüter allerhand Leckereien für Bären in Baumstämmen versteckt: Gemüse und Obst, etwas Honig, andere Küchenabfälle. Wir stellen uns schon auf die ein oder andere Stunde Wartezeit ein, es ist erst Nachmittag, so bald werden sich keine Bären blicken lassen. Aber kaum eine viertel Stunde nachdem wir unsere Plätze im Aussichtsstand eingenommen haben, geht aufgeregtes Flüstern durch die Anwesenden. Von links aus dem Wald nähert sich eine Mutter mit zwei Jungen! Der Förster erzählt, die Kleinen seien sechs Monate alt und nicht ihr erster Nachwuchs. Aber dabei bleibt es nicht, im Laufe der nächsten Stunden sehen wir insgesamt an die zehn Bären, die eifrig die Verstecke in den ausgehöhlten Baumstämmen durchforsten, sich dabei immer wieder neugierig und vorsichtig umschauen und die gefundene Mahlzeit geniessen. Es gibt ein paar halbwüchsige Männchen, ein 13 Jahre altes, großes Weibchen, zwei Jahre alte und für die Jahreszeit noch sehr dünne Geschwister, und immer wieder läßt sich die Bärin mit den beiden Jungen blicken. Eindeutig das Sagen in diesem Gebiet hat aber ein bereits 22 Jahre altes Weibchen, das einzelgängerisch und recht aggressiv ist; sein rechtes Ohr hat bei einem Kampf ziemlich gelitten und ist heute nur noch halb so groß wie das andere. Wenn sie Glück haben, so erzählt der Förster, können wilde Bären hier bis zu dreissig Jahre alt werden - die Bärin ist also schon eine etwas betagte Dame. Irgendwann nähert sich von weitem ein Quad oder Motorrad; bereits sehr früh hören die Bären den Lärm und machen sich schleunigst aus dem Staub, auch wenn sie das Futter damit den riesigen Raben und den Eichelhähern überlassen, die immer wieder über der Lichtung kreisen. Es ist etwa neun Uhr, als es plötzlich merklich dunkler wird und ein heftiger Wind die Bäume um uns herum kräftig durchschüttelt. Da das Holz wegen ausbleibendem Regen sehr trocken ist, rät der Förster uns, gleich aufzubrechen, da im Falle eines Sturmes mit umstürzenden Bäumen zu rechnen sei. Auf der Heimfahrt begegnet uns noch ein gewaltiger Keiler, der auf einmal direkt neben der Straße aus dem hohen Gras aufschreckt und ins Abendlicht davonläuft.

Nach der herrlichen Ruhe des kleinen Bergdorfes Magura erschlägt Sighisoara uns ein wenig. Der wunderschöne mittelalterliche Stadtkern ist vollgepfropft mit Besuchern aus aller Welt, und es sind noch mehr als die üblichen Sommerurlauber. Das hat einen besonderen Grund: An dem Wochenende, das wir für unseren Besuch ausgesucht haben, findet hier ein internationales Folklore-Festival statt. In den kopfsteingepflasterten Straßen reihen sich die Souvenirstände aneinander, für das leibliche Wohl ist natürlich auch gesorgt, und mit einem Arsenal an Kameras und Handys wird wirklich alles festgehalten. Auf einer Bühne treten in bunter Folge verschiedene Tanzgruppen auf, wir erwischen gerade die makedonische Truppe mit ihrem traditionellen Gesang und Tanz. Wir bummeln ein Weilchen durch die Altstadt, vorbei am berühmten Stundturm mit seinem in Rumänien einzigartigen Figurenspiel; einst diente das insgesamt 64 Meter hohe Gebäude als Wehrturm und war Teil der Verteidigungsanlage der Stadt.

Wenige Häuser weiter, so wird jedenfalls gemutmaßt, soll der berüchtigte Woiwode Vlad III. Tepes das Licht der Welt erblickt haben; fest steht, dass er zusammen mit seinem Vater Vlad II. Dracul in dem gelben Haus mitten in der Stadt einige Jahre verbracht hat. Heute kann man in dem Gebäude rumänische Spezialitäten mit Dracula-inspirierten Namen geniessen.

Gerne hätten wir die schönen alten Häuser, wie das "Haus mit dem Hirschgeweih", die kleinen Gäßchen und den Blick auf den Schulberg in weniger zahlreicher Gesellschaft genossen; so aber kehren wir Schäßburg schon nach ein paar Stunden wieder den Rücken. Im August in Rumänien eine bekannte Touristenattraktion zu besuchen ist einfach keine gute Idee. Das gilt für die Babele in den Bucegi genauso wie für das altehrwürdige Sighisoara. Wir werden auf alle Fälle wiederkommen, aber lieber im Frühjahr oder Herbst!

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