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Im Garten der Epidemiologen

Fährt man im Südwesten Rumäniens auf der Verbindungsstrecke von Caransebes nach Hateg, so tauchen rechter Hand schon bald die massigen Gipfel des Retezat-Gebirges auf. Es bildet den westlichsten Teil der rumänischen Südkarpaten. Seine zahlreichen über 2000 Meter messenden Gipfel reihen sich aneinander wie die schneebedeckten Zinnen einer gewaltigen Festung. Der höchste unter ihnen ist die Peleaga-Spitze mit 2509 Metern. Der namensgebende Retezat-Gipfel ist nur geringfügig kleiner und hat laut einer alten Volkssage seine Spitze durch den Zorn einer eifersüchtigen Riesentochter verloren.

Etwas südlich von Hateg zweigt von der Hauptstraße nach Petrosani eine kleinere Richtung Retezat-Nationalpark ab. Bereits 1935 wurde das Gebiet zum Naturpark erklärt und ist somit das älteste Schutzgebiet dieser Art in Rumänien. Durch Dörfer und ausgedehnte Felder erreichen wir, das Retezat-Massiv immer fest im Blick, die Ortschaft Salasu de Sus. Hier findet gerade das Narzissenfest statt und die schmalen Straßen bersten vor Menschen, bunten Ballons und allerlei Köstlichkeiten. Unser Dicker schiebt sich mit Mühe und der Hilfe eines Dorfpolizisten durch die Massen. Am Ortsausgang Richtung Nucsoara liegt das etwas verwaist wirkende Informationszenrum des Nationalparks, aber ein anwesender Ranger kann uns dann doch mit ein paar nützlichen Informationen versorgen.

Wenige Kilometer hinter Nucsoara werden die Menschen seltener, am Wegesrand weiden Kühe und das Retezat rückt immer näher. Mit dem Auto kommt man nur bis zur Carnic-Hütte, heutzutage eine hübsche, bewirtschaftete Pension.

Uns lockt allerdings das provisorisch angebrachte Camping-Schild der Hütte direkt gegenüber an. Die ist noch mitten im Bau und drum herum stapeln sich die Materialien. Kaum sind wir aus dem Dicken ausgestiegen, werden wir auf das Herzlichste von Doina und Ioan, einem Ehepaar in den Sechzigern, begrüßt.

Kurzerhand mäht Ioan ein Stück Rasen hinter der Baustelle für uns, und Jürgen darf sich auch mal versuchen - ist schwieriger als es aussieht! Doina, die so heißt wie besondere rumänische Lieder, pflückt uns einen kleinen Strauß bunter Blumen und lädt uns für den Abend zu einem gemütlichen Lagerfeuer ein.

Es könnte kaum einen besseren Platz für unseren Dicken und das Dachzelt geben als diese ruhige Wiese; in der tiefen nahen Schlucht rauscht ein tosender Schmelzwasserbach und im Wald, der den Platz umsäumt, hört man immer wieder Füchse.

Doina und Ioan sind Epidemiologen im Ruhestand, in ihrem alten Leben impften und betreuten sie Piloten und Stewardessen am Bukarester Flughafen. Doch irgendwann wurde ihnen das Leben in Rumäniens Hauptstadt zu hektisch, und so kauften sie dieses Stück Land zu Füßen des Retezat. Einfach war das aber nicht, denn die Gemeinde hatte den Boden gleich zweimal verkauft, und erst ein Gerichtsverfahren brachte für die beiden Ärzte schließlich die Gewissheit, die Wiese mit der dort stehenden alten Berghütte ihr Eigen nennen zu dürfen. Diese alte Hütte gibt es noch immer, die beiden haben ihr Heim kurzerhand drum herum gebaut. Abends am Lagerfeuer kommt Doina bei einem Gläschen selbstgemachtem Heidelbeerschnaps ins Erzählen. Sie berichtet von dem Fuchs, der im nahen Wald lebt und immer wieder auf ihren Hof kommt auf der Suche nach Nahrung und Baumaterial - schon öfter ist dabei der Schuh eines Gastes verschwunden und Monate später wieder im Dickicht aufgetaucht. Und von ihrem deutschen Freund Jochen, der so ein Auto fährt wie wir und immer wieder mit Reisegruppen zu ihnen kommt. Und ihren Plänen, die Hütte zu einer gemütlichen Unterkunft für Reisende und Bergwanderer auszubauen nebst einem kleinen Häuschen, in dem sie selbstgemachten Sirup, Beeren und Pilze verkaufen wird. Aber die beiden haben es nicht eilig, sie bauen nun schon einige Sommer an ihrem Traum. Viel wichtiger ist ihnen, viel draußen zu sein, mit ihren eigenen Händen etwas zu erschaffen und Menschen kennenzulernen, die hier vor allem im Sommer zahlreich vorbeikommen. Es gibt keine Stromleitung zu ihrer Hütte, keine Müllabfuhr und der kleine Pfad hierher wurde erst vor kurzem in einen zumutbaren Zustand versetzt. Doina ist nicht gut zu sprechen auf die örtliche Gemeindeverwaltung, überhaupt hat sie von der Politik in ihrem Land mittlerweile die Nase voll. "Aber das Leben hier im Retezat ist herrlich ruhig und die Luft ist so sauber - und die Grundstücke sind billig." Ioan würde uns am liebsten gleich zu seinen neuen Nachbarn machen.

Am nächsten Morgen brechen wir auf in die Berge. Der breite Pfad verläuft gemächlich steigend durch dichten Wald, links unter uns poltert der Nucsoara-Bach über glattgewaschene Felsbrocken. Der Zusammenfluss mehrerer Gletscherbäche führt ordentlich Wasser, in höheren Lagen schmilzt immer noch der Schnee vom letzten Winter. Ein kleiner Abzweig nach links führt über Holzstufen zum Lolaia-Wasserfall; viele Besucher belassen es bei der rund vierzigminütigen Wanderung hierher und zurück zur Carnic-Hütte; wer will, findet hier sogar einen kleinen Tisch für Selbstportraits vor dem Wasserfall.

Von hier aus wird der weiß-blau-weiß markierte Pfad immer steiler und steiniger. Kleine Rinnsale schlängeln sich talwärts. Ein winziges Wasserkraftwerk wirkt irgendwie deplatziert in der waldigen Einsamkeit. Der Weg ist nun nur noch ein kleiner Pfad, wie Treppenstufen türmen sich die Wurzeln der alten Bäume bergan. Unser erstes Ziel ist erreicht! Die Pietrele-Hütte steht auf einer kleinen, wilden Lichtung neben einem Bach, umringt von mehreren Holzhäuschen, die zum Übernachten einladen. Nach einer kurzen Verschnaufpause zieht es uns weiter hinauf, es lockt die Aussicht auf ein schönes Gipfelpanorama. An der Gentiana-Hütte kündigt uns Monti lautstark bellend an; der Hüttenwart zerschlägt unsere Hoffnung auf das Bergpanorama. Gute zwei Stunden seien es noch bis zu einem guten Aussichtspunkt, und dann sei es bereits zu spät, um wieder abzusteigen. Ohne Zelt und Geld bleibt uns also keine Wahl als den weiteren Aufstieg auf den Sommer zu verschieben. Zwei Frauen kommen uns entgegen und gesellen sich zu einer warmen Tasse Tee zu uns. Cosmina stammt aus der Nähe von Orsova und hat inzwischen in Deutschland eine Familie; ihre Freundin Sabrina ist spontan als Reisegefährtin eingesprungen, da Cosminas Tochter keine Lust hatte, in die Heimat der Mutter mitzukommen. Die beiden sind früher aufgebrochen als wir und haben es ein Stück weiter geschafft; wie sich herausstellt wohnen sie in der Pension direkt gegenüber unserem Zeltplatz und hatten unseren Dicken samt Dachzelt natürlich schon entdeckt. Beim Abstieg zeigen die beiden uns eine Abkürzung, ein abwechslungsreicher, schmaler Weg mit mehreren Bachquerungen bringt uns schneller als gedacht zu unserem Lagerplatz zurück.

Nicht mehr als ein kurzer Einblick ist uns auf dieser Reise ins Retezat gewährt. Schneller als uns lieb ist müssen wir uns von unseren herzlichen Gastgebern verabschieden. Doina hat noch selbstgemachten Heidelbeersirup für uns und umarmt uns zum Abschied. Ioan erzählt noch ein wenig von früheren Zeiten in Bukarest am Flughafen. "Am meisten vermisse ich die Stewardessen." grinst er verschmitzt und schaut verstohlen zu seiner Frau. Wir werden im Sommer auf alle Fälle wiederkommen!

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